Was man als Besucher des British Museum eigentlich nicht zu Gesicht bekommt, sind die großartigen assyrischen Bibliotheken, bestehend aus zehntausenden Tontäfelchen mit eingegrabenen Keilschrift Texten. Zum Glück haben die Assyrer ihre Texte nicht auf CD’s gespeichert.
Wenn man sich dies Stele des Königs Šamši-Adad V. (823-811 v. Chr.) aus dem British Museum ansieht, die er dem Kriegsgott Ninurta geweiht hat, kann man den Militarismus und die Bildung der Assyrer erkennen: Das gesamte Bild ist mit Keilschriftzeichen bedeckt.
Für das Thema dieses Blogs bedeutsam sind die Verträge, die die assyrischen Könige hinterlassen haben, um sich den Gehorsam der von ihnen unterworfenen Völker zu sichern. Ich gebe im folgenden Auszüge des Vertrages wieder, mit dem Esarhaddon (680-669 v. Chr.) seine Nachfolge regeln wollte. Übersetzt habe ich nach der englischen Ausgabe des Neu-Assyrischen Text Projekts.
Der Vertrag Esarhaddons
(Aus der Präambel):
»Vertrag Esarhaddons, des Königs der Welt (…) mit (…) all denen, über die Esarhaddon, König von Assyrien, Königtum und Herrschaft ausübt, mit dir, deinen Söhnen und Enkeln die in den Tagen nach dem Abschluss dieses Vertrags geboren werden.«
(§ 2 – Göttliche Zeugen)
»Den er bestätigte, machte und schloss (…) in der Gegenwart von Assur, Anu, Illi, Ea, Sin, Šamaš, Adad, Marduk (…) von Niniveh, den Göttern die im Himmel und auf Erden wohnen, den Göttern von Sumer und Akkad, all den Göttern des Landes.«
(§ 4 – der designierte Thronerbe)
»Dies ist der Vertrag, den Esarhaddon, König von Assyrien, mit euch geschlossen hat, in der Gegenwart der großen Götter des Himmels und der Erde, betreffend Assurbanipal, des großen, designierten Kronprinzen, Sohn Esarhaddons, des Königs von Assyrien, euerm Herrn, der ihm (Assurbanipal) seinen Namen gegeben und ihm zum Kronprinzen bestimmt hat.«
Die folgenden Paragraphen bestimmen die absolute Loyalität der Vertragsnehmer zum Kronprinzen, regeln den Umgang mit Verrat und Aufruhr, oder was im Fall des plötzlichen Todes des Königs zu geschehen hat. Sie beginnen immer wieder mit der Formulierung: »Ihr sollt …« – »wenn jemand …, dann …«, »ihr sollt nicht …«, »an dem Tag, an dem …«.
(§ 34 – Einstellung zum Eid auf den Vertrag)
»Wenn ihr am Ort dieses Eides steht, sollt ihr diesen Eid nicht nur mit euren Lippen leisten, sondern mit eurem ganzen Herzen! Ihr sollt ihn eure Söhne lehren, die nach diesem Vertrag geboren werden. (…) In Zukunft und für immer wird Assur euer Gott sein, und Assurbanipal, der designierte Kronprinz, wird euer Herr sein. Mögen eure Söhne und Enkel ihn fürchten.«
Mit den Paragraphen 37 – 56 und 58 – 106 folgen umfangreiche Fluchbestimmungen, die diejenigen treffen sollen, die diesen Vertrag und den auf ihn geleisteten Eid nicht halten werden.
(§ 57 – Selbstverpflichtung zur Einhaltung des Vertrags)
»(…) Solange wir, unsere Söhne und Enkel am Leben sind, soll Assurbanipal, der große, designierte Kronprinz, unser König und Herr sein und wir werden keinen anderen König oder Fürsten über uns, unsere Söhne und Enkel setzen. Mögen alle namentlich (in diesem Vertrag) genannten Götter uns, unsere Nachkommen und die Nachkommen unserer Nachkommen für diesen Eid zur Verantwortung ziehen.«
Das Deuteronomium
Das bemerkenswerte an diesem neuassyrischen Vertrag ist, dass alle seine Elemente vom Deuteronomium in einer Art und Weise übernommen wurden, die einen direkten Bezug auf die assyrischen Verträge nahelegen. Ich führe die charakteristischen Ähnlichkeiten hier analog in der Übersetzung von Schlachter auf:
(vgl. Präambel)
»Dies sind die Gebote, Satzungen und Rechte, die der HERR, euer Gott, euch zu lehren geboten hat, daß ihr sie tun sollt im Lande, dahin ihr ziehet, um es einzunehmen. (…) Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du auf dem Herzen tragen, und du sollst sie deinen Kindern fleißig einschärfen und davon reden. (Dtn 6,1+6)
(vgl. § 2 – die Zeugen)
»Ich nehme heute Himmel und Erde wider euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt; so erwähle nun das Leben, auf dass du lebest, du und dein Same« (Dtn 30,19) »So versammelt nun vor mir alle Ältesten eurer Stämme und eure Amtleute, damit ich diese Worte vor ihren Ohren rede und Himmel und Erde wider sie zu Zeugen nehme.« (Dtn 31,28)
(vgl. § 34 – Einstellung zur Geltung des Vertrags)
»Nur hüte dich und bewahre deine Seele wohl, dass du die Geschichten nicht vergessest, die deine Augen gesehen haben, und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen alle Tage deines Lebens; sondern du sollst sie deinen Kindern und Kindeskindern kundtun.« (Dtn 4,9)
Die umfangreiche Sammlung von Fluchbestimmungen findet sich im Kapitel 28 des Deuteronomiums.
(vgl. § 57 – Selbstverpflichtung zur Einhaltung des Vertrags)
»Ihr alle steht heute vor dem HERRN, eurem Gott. (…) Denn ich schließe diesen Bund und diesen Eid nicht mit euch allein, sondern sowohl mit euch, die ihr heute hier seid und mit uns stehet vor dem HERRN, unserm Gott, als auch mit denen, die heute nicht bei uns sind.« (Dtn 29,10a.14-15)
Fazit
Vertragspartner ist im Deuteronomium nicht der assyrische König, sondern der HERR. Versprochen wird nicht die Treue zum Thronprinzen, sondern zur Tora. In den Bund einbezogen sind – wie bei der assyrischen Vorlage – die kommenden Generationen. Und als Zeugen treten nicht die Götter des Himmels und der Erde auf – sondern Himmel und Erde.
Daher nennt Konrad Schmid diese Passagen des Deuteronomiums „eine subversive Rezeption neuassyrischer Vertragstheologie«. In einer extrem schwierigen Zeit sagen diese Texte, dass der entscheidende Vertrag und Eid für Israel nicht mit einem Großkönig, sondern mit dem HERRN geschlossen wurde.