»Heiliger Homer« I

Bei Tagesanbruch des 24. Dezember 1775 1 schreibt der geheime Legationsrat Goethe an seinen Landesherrn, den Herzog Karl August, einen Brief von einer Dienstreise. Dort heißt es: »Die Kirche geht an, in die wir nicht gehen werden, aber den Pfarrer lasse ich fragen, ob er die Odyssee nicht hat, und hat er sie nicht schick ich nach Jena. Denn unmöglich ist die zu entbehren hier in der homerisch einfachen Welt.« (Briefe, Hamburger Ausgabe, Band I, S. 202)

Mich erinnert diese Begebenheit daran, dass Homer in der Antike wirklich einen Status hatte, der dem eines „Heiligen Textes“ nahekam, und dass die Techniken, die entwickelt wurden, um Homer zu exegetisieren, von antiken Auslegern der Bibel aufgegriffen werden konnten.

Prototyp Protagoras

Der platonische Dialog Protagoras lässt dessen Namensgeber sagen: »Ich glaube, sprach er, o Sokrates, dass es ein wichtiges Stück der Unterweisung ist für einen Mann, in Gedichten stark zu sein. Dies besteht aber darin, dass er imstande ist, das von den Dichtern gesagte zu verstehen, was nämlich gut gedichtet ist und was nicht, auch es zu erklären, und, wenn er gefragt wird, Rechenschaft zu geben.« (Protagoras, 339a; Ü: Friedrich Schleiermacher)

Dass die möglichst frühe Bekanntschaft der (männlichen) Kinder mit der Dichtung ein zentraler Aspekt der griechischen Erziehung war, wird ebenfalls in diesem Dialog deutlich, als Protagoras einen Überblick über den damaligen Bildungsweg gibt (325d ff.). Dort heißt es über die Lehrer der Jungen: »So geben sie ihnen auf den Bänkchen die Gedichte der trefflichsten Dichter zu lesen und lassen sie einlernen, in denen viele Zurechtweisungen enthalten sind und Erläuterungen, auch Lob und Verherrlichung alter trefflicher Männer, damit der Knabe sie bewundernd nachahme und sich bestrebe, auch ein solcher zu werden«. (Protagoras, 325e-326a; Ü: Schleiermacher) 2

Dass Protagoras bei aller Wertschätzung der Dichter dabei aber durchaus nicht unkritisch war, belegt diese durch Aristoteles in der Poetik überlieferte Bewertung des ersten Verses 3 der Ilias: »Wer möchte wohl einen Fehler in dem erblicken, was Protagoras an Homer getadelt hat, dass dieser nämlich mit den Worten „Göttin, singe den Zorn“ einen Wunsch zu äußern meine, während er doch einen Befehl ausspricht, denn wenn man jemand etwas tun oder lassen heiße, so sei dies eben ein Befehl.« (Poetik 1456b 13, Ü: Theodor Gomperz). Für Aristoteles ist in diesem Fall klar: Protagoras beherrschte einfach nicht die wichtigsten Prinzipien der Vortragskunst, zu denen die »Unterscheidung von Gebot, Wunsch, Erzählung, Drohung, Frage und Antwort« gehöre.

Allerdings war die inhaltliche Kritik seines Lehrers Plato an Homer viel heftiger ausgefallen, der in der Politeia vor allem die all zu menschliche Darstellung der Götter durch die Ilias beklagt hatte (vgl. Politeia 368a-392c). Und doch hat Plato frühe Beispiele einer Homer-Exegese bewahrt, die auf eben diese Kritik reagiert hat.

Im Theaitetos zitiert Sokrates die philosophische Auslegung eines Verses aus dem 14. Gesang der Ilias durch Protagoras. »Ursprung der Götter ist Okeanos und Thetys die Mutter« 4 Damit »will er andeuten, dass alles entsprungen ist aus dem Fluss und der Bewegung«. So verdeutlicht der Dichter, was schon die Philosophen Heraklit und Empedokles gedacht haben: »Durch Bewegung und Veränderung und Vermischung untereinander wird alles nur, wovon wir sagen, dass es ist, es nicht richtig bezeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es.« (Theaitetos 152 d; Ü: Schleiermacher) Natürlich wird Sokrates diesen Satz dann widerlegen, aber hier geht es mir um das von ihm zitierte Auslegungs-Verfahren.

Die goldene Kette

Ein noch spektakuläreres Beispiel hat der gleiche Dialog zu bieten, wenn er eine gängige Auslegung einer Passage aus dem 8. Gesang der Ilias bietet. Zu Beginn dieses Gesangs verbietet Zeus den anderen Göttern das Eingreifen in den Kampf um Troja, egal auf welcher Seite. Um ihnen seine Vormacht zu demonstrieren, gebraucht er dabei folgendes Bild:

»Auf wohlan, ihr Götter, versucht’s, dass ihr all‘ es erkennet,
Eine goldene Kette befestigend oben am Himmel;
Hängt dann all‘ ihr Götter euch an, und ihr Göttinnen alle:
Dennoch zögt ihr nie vom Himmel herab auf den Boden
Zeus den Ordner der Welt, wie sehr ihr rängt in der Arbeit!
Aber sobald auch mir im Ernst es gefiele zu ziehen;
Selbst mit der Erd‘ euch zög‘ ich empor, und selbst mit dem Meere;
Und die Kette darauf um das Felsenhaupt des Olympos
Bänd‘ ich fest, dass schwebend das Weltall hing‘ in der Höhe!
So weit rag‘ ich vor Göttern an Macht, so weit vor den Menschen!
Jener sprach’s; doch alle verstummten umher, und schwiegen,
Hoch das Wort anstaunend; denn kraftvoll hatt‘ er geredet.«
(Ilias, VIII, 18-29; Ü: Johann Heinrich Voss)

Wie ist dieses »himmlische Tauziehen« theologisch zu retten? Sokrates erwähnt eine Deutung, »dass unter der „goldenen Kette“ Homeros nichts anderes versteht als die Sonne und also andeutet, solange der gesamte Umkreis in Bewegung ist und die Sonne, solange sei auch alles, und bleibe wohlbehalten bei Göttern und Menschen, wenn aber dieses einmal wie gebunden stillstände, so würden alle Dinge untergehen und, wie man sagt, das Unterste zu Oberst gekehrt werden« (Theaitetos 153d).

Homer als maßgeblicher Text

Durch diese Exegese war es also möglich, an Homer als maßgeblichem Text festzuhalten, und selbst Plato, der dessen unbedingte Geltung heftig bestritten hatte, musste sie doch für uns festhalten, wenn er am Ende der Politeia Sokrates zu Glaukon resignierend sagen lässt: »Wenn du Lobredner des Homeros antriffst, welche behaupten, dieser Dichter habe Hellas gebildet, und bei der Anordnung und Förderung aller menschlichen Dinge müsse man ihn zur Hand nehmen, um von ihm zu lernen und das ganze eigene Leben nach diesem Dichter einrichten und durchführen: so mögest du sie dir gefallen lassen und mit ihnen, als die so gut sind, wie sie nur immer können, vorlieb nehmen, auch ihnen zugeben, Homeros sei der dichterischste und erste aller Tragödiendichter, doch aber wissen, dass in den Staat nur der Teil von Dichtkunst aufzunehmen ist, der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt.« (Politeia, 606e-607a; Ü: s.o.).

Diese Spannung zwischen Vorbild und notweniger Kritik findet sich schon bei dem Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon: »Da von Anfang alle nach Homer gelernt haben …« heißt es bei ihm, genauso wie: »Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen.« (Die Fragmente der Vorsokratiker, Xenophanes X+XI, Ü: Hermann Diels, in dieser Ausgabe S. 59f.)

Was hat das alles mit der Auslegung der Bibel zu tun? Nun, das Vorbild der Homer-Exegese fand nicht nur bei gebildeten Juden in Alexandria Anwendung auf die Bibel (Aristobul, Philo v. Alexandrien), es beschäftigte auch die Kirchenväter.

Fortsetzung folgt.

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  1. Der Tag fiel auf einen Sonntag
  2. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Dichter in der Erziehung findet sich in den Ausführungen des „Atheners“ in Nomoi, 810e-811a)
  3. »Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilles« (Ü: Johann Heinrich Voss)
  4. Ilias, XIV, 201+300; Übersetzung Schleiermacher; Voss lässt in diesem Vers bemerkenswerterweise den Begriff „Götter“ aus und spricht von Okeanos nur als „Vater“. Thetys ist die Schwester und Gattin des Okeanos und gehört wie er der älteren Göttergeneration an.

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