In Lk 16,19-31 wird von Jesus erzählt, dass ein reicher Mann nach seinem Tod in der Unterwelt (im Urtext steht: »im Hades«!) schreckliche Qualen erleiden muss, während Engel den Armen namens Lazarus in Abrahams Schoss getragen haben. Die detailreiche Schilderung hat immer wieder die Phantasie der Lesenden beflügelt: stellt die Bibel hier einen Blick ins Jenseits zur Verfügung? Wie problematisch diese Ansicht ist, zeigt sich sehr schön in der Auslegungstradition, die sich die Vorstellung zu Eigen machte, im Jenseits könnten sich – wie in Lk 16 geschildert – die Verdammten und die Seligen gegenseitig sehen, wenn auch durch einen »große Kluft« getrennt.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, welche geradezu unglaublichen Formen diese Fantasien annehmen konnten. Schneidend hat Friedrich Nietzsche seine Kritik formuliert: »Denn was ist die Seligkeit jenes Paradieses? …. Wir würden es vielleicht schon errathen; aber besser ist es, dass es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der grosse Lehrer und Heilige. „Beati in regno coelesti“, sagt er sanft wie ein Lamm, „videbunt poenas damnatorum, ut beatitudo illis magis complaceat.“« (Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 15).
Zu Deutsch: »Die Seligen im Himmelreich werden die Strafen der Verdammten sehen, damit ihre Seligkeit noch angenehmer sei.« Der Satz stammt laut Colli/Montinari aus dem Sentenzenkommtar des Aquinaten (IV,L,2,4,4)1. Offensichtlich haben die Kirchenväter eine der Grundregeln nicht beachtet, die Augustinus zur Bibelauslegung formuliert hat:
»Nam in principio cavendum est ne figuratam locutionem ad litteram accipias«. Deutsch: »Denn es ist vor allem zu vermeiden, dass du eine figürliche Redeweise buchstäblich auffasst«. (De doctrina Christiana III,V,9.20=MPL XXXIV, 68-69)
Die eigentliche Aussageabsicht der Erzählung scheint mir nicht die Schilderung des Jenseits zu sein, sondern die Spitzenaussage der Perikope: Sie haben Mose und die Propheten – auf die sollen sie hören! (…) Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, so würden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten auferstände. (Lk 16,29+31 Schlachter).