Ich kann weiterhin keinen befriedigenden Ansatz zur Auslegung von Num 19 anbieten, nur zwei Beobachtungen, die aber meiner Meinung nach in eine gute Richtung weisen.
Die erste Beobachtung bezieht sich auf den Mischna-Traktat Para, der in der sechsten Ordnung Toharot (»Reinheiten«) enthalten ist. Der Name ist die Kurzform von fara adumma – die rote, junge Kuh, aus deren Asche das Reinigungswasser gewonnen wird. In zwölf Abschnitten diskutieren die Rabbinen hier die Herstellung, Aufbewahrung und Verwendung des Wassers – und das zu einer Zeit, als die Bestimmungen von Num 19 auf Grund der Zerstörung des zweiten Tempels bereits jahrhundertelang nicht mehr zur Anwendung kamen.
Die zweite Beobachtung machte ich bei Thomas v. Aquin. In der Summa theologica I-II 102,5 diskutiert Thomas die Frage: »Ob die Sakramente des Alten Gesetzes einen Sinn haben können?« In Ad quintum geht er dabei auch relativ ausführlich auf die Auslegung von Num 19 ein, die bei ihm vor allem in einem typologischen Sinn erfolgt.(Übrigens bejaht Thomas die gestellte Frage eindeutig!)
Auffällig ist, dass der Traktat Para im Talmud nicht kommentiert wird (weder im Bavli noch im Jeruschalmi) und dass weder Num 19 noch seine Auslegung im heutigen Katholizismus irgend eine nenneswerte Rolle spielen. Nach Otto Hermann Pesch gehören die Ausführungen des Thomas zu den Bestimmungen der Tora »selbst unter Thomisten zu den am wenigsten gelesenen Texten des Thomas.« (S. 285)
Auch wenn die Diskussion in der Mischna und die typologischen Deutungen des Thomas einen modernen Menschen kaum befriedigen können – so lässt sich von dem dahinter stehenden Ethos im Umgang mit der Heiligen Schrift doch etwas lernen: hier wird kein Text aufgegeben, bloss weil sein Inhalt anstössig, schwierig oder gar unerheblich erscheint.