Ein epochaler Text: Jakobs Traum von der Himmelsleiter

In Gen 28,10-22 wird erzählt, wie Jakob auf dem Weg nach Haran auf freiem Feld übernachtet und dort einen Traum hat: er sieht Engel auf einer Leiter auf und niedersteigen, und JHWH verspricht ihm Schutz und reiche Nachkommenschaft. Zum Andenken an den Traum errichtet Jakob ein Steinmal und nennt den Ort Bet-El, »Haus  Gottes.« Wie ist der Text zu verstehen?

Ein kleiner unvollständiger Überblick  quer durch die Epochen der Bibelauslegung:

Johannes-Evangelium

Im vierten Evangelium – dessen Abfassung ich mit Pokorny/Heckel gegen Ende des ersten Jahrhunderts ansetze –  zitiert der johanneische Christus Gen 28 bei der Berufung des Natanaël: »Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn« (Joh 1,51 EÜ). Hier ist die Himmelsleiter offensichtlich Zeichen der Auserwählung dessen, über dem sie erscheint – und/oder Christus ist das Bet-El, also der Ort der Begegnung mit Gott.

Origenes

Der große alexandrinische Kirchenvater († ~ 254) hat sich mehrfach zur Deutung von Gen 28 geäußert, in seinen Büchern »Gegen Celsus« eher zurückhaltend: »Wir können nicht entscheiden, ob Moses in seiner Erzählung von der Leiter das, was Plato im Auge hatte, oder etwas Erhabeneres als dieses dunkel andeuten wollte« (VI,21). Bei Platos Vorstellungen geht es um den möglichen Auf- und Abstieg der Seele durch mehrere Existenzformen [vgl. Phaidros, 246 a ff.], eine Vorstellung, von der sich Origenes im ersten Buch des gleichen Werkes distanziert (Gegen Celsus I,20).

Hieronymus aber macht Rufin den Vorwurf, in seiner Übersetzung der »Vier Bücher von den Prinzipien« entsprechende problematische Aussagen des Origenes unterdrückt zu haben. Er entrüstet sich darüber, dass Origenes sogar als Auslegungsmöglichkeit unserer Stelle erwogen habe, dass »aus einem Erzengel ein Teufel werden könne und umgekehrt« (Brief 124 an Avitus, Nr. 3 ,MPL XXII, 1061). Hier wird also das Auf- und Absteigen der Engel als Auf- und Abstieg auf der qualitativen Stufenleiter des Seins gedeutet.

Nach Henning Graf Reventlow hat Origenes in seinem Kommentar zum Hohelied  die drei Erzväter als Verkörperung des menschlichen Aufstiegs zu Gott gedeutet: Abraham verkörpert durch seinen Gehorsam die Moral, Isaak durch sein Brunnengraben (Gen 26,19 ff.) die Naturwissenschaft (!) und Jakob durch die Schau der Himmelsleiter die Mystik.

Midrasch Wajikra Rabba

Der rabbinische Homilien-Midrasch zum Buch Levitikus wurde nach Stemberger zwischen 400 und 500 in Palästina erstellt. Hier werden die auf und absteigenden Engel als Völkerengel gedeutet (vgl. Dan 10) – als der Fürst von Babylon, Medien, Griechenland und Edom (damit ist Rom gemeint). Jakob – als Verkörperung seines Volkes Israel – erfährt in diesem Traum also, dass diese Reiche aufsteigen und seine Nachkommen unterdrücken werden – aber dass dem Aufstieg auch der sichere Abstieg und damit die Befreiung Israels folgen wird. (Wajikra Rabba, XXIX,2 – in der von mir verlinkten Version S. 200).

Augustinus

Der 354 verstorbene afrikanische Kirchenvater schreibt in seinem Werk De doctrina christiana die mystische Deutung des Origenes fort und spricht von sieben Stufen, auf denen der Christ zu Gott aufsteigt: ohne sich allerdings ausdrücklich auf Jakobs Leiter zu beziehen. Die von ihm genannten Stufen (Augustinus spricht von gradus) des Aufstiegs sind Gottesfurcht, Frömmigkeit, Wissen, Tapferkeit, Barmherzigkeit, Reinheit des Herzens und Weisheit. (De doctrina christiana II, VII) Diese Deutung ist das Modell für viele weitere Ausleger geworden.

Die Leiter, in der diese Sprossen eingebettet sind, ist bei Augustinus die Heilige Schrift, denn von ihrer Auslegung handelt das ganze Werk. In dessen viertem Buch schreibt er, dass man statt des lateinischen Wortes für Leiter (scala) auch das griechische Wort climax verwenden könne (IV, VII). Damit kommen wir zu einem griechischen Kirchenvater, der die Jakobsleiter gleichsam programmatisch als Ehrennamen verliehen bekam.

Johannes Climacus

Wahrscheinlich stirbt Climacus 650 als Abt des Katharinenklosters am Sinai. Sein Hauptwerk – »Die Leiter« (climax) – wird im Westen als scala paradisi bekannt, und richtet sich ausschließlich an Mönche. Das Werk kennt unter Berufung auf Gen 28 und die Jahre des verborgenen Lebens Jesu (Lk 3,23) dreißig Stufen des Aufstiegs zu Gott.

Die Jakobsleiter Sinai Kloster 12. Jh.
Die Jakobsleiter; Ikone aus dem Katharinenkloster, 12. Jh. Wikimedia commons

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auffällig ist, dass in dieser Auslegungstradition die Subjekte des Auf- und Abstiegs nicht mehr Engel, sondern Menschen sind.

Guigo der Kartäuser

Guigo († 1193) war Prior der Grande Chartreuse, der Mutter aller Kartäuserklöster. Berühmt geworden ist sein Werk Scala claustralium (= die Leiter der Mönche), das wiederum das Bild der Himmelsleiter aus Genesis 28 verwendet, um die lectio divina (die »göttliche Lesung«) zu verdeutlichen. Guigo schreibt über die Entstehung des Werkes: »Als ich eines Tages mit Handarbeit beschäftigt war und über die geistlichen Übungen der Menschen nachzudenken begann, kamen mir mit einem Male vier geistliche Stufen in den Sinn, nämlich lectio (Lesung), meditatio (Meditation), oratio (Gebet) und contemplatio (Kontemplation).« (Übersetzung: Daniel Tibi OSB)

Dieses Werk über die kontemplative Lesung der Schrift ist keinesfalls nur für Mönche geeignet. Es unterstreicht vielmehr den nicht aufgebbaren spirituellen Aspekt bei der Auslegung der Heiligen Schrift. Dazu demnächst einmal mehr.

Die historisch-kritische Forschung

Konrad Schmid schreibt in seiner Einführung in die Literaturgeschichte des Alten Testaments, dass die Mehrheit der Exegeten von einer Herkunft der Erzählungen des Jakobszyklus aus dem Nordreich ausgehen. Im Nordreich Israel aber war Betel ein wichtiges Staatsheiligtum: »denn es ist ein königliches Heiligtum und ein Reichstempel« (Am 7,13 Schlachter). Laut 1 Kön 12,26-33 geht die Einrichtung dieses Heiligtums auf Jerobeam zurück – und ist im deuternomistischen Geschichtswerk natürlich mit der »Sünde Jerobeams« (vgl. 2 Kön 10,29 u.ö.) und der Erzählung vom goldenen Kalb (Ex 32) verbunden.

James L. Kugel macht darauf aufmerksam, dass das Steinmal, das Jakob aufrichtet (hebr. massebah), in der Tora als kultische Praxis ausdrücklich verboten wird (Lev 26,1 und Dtn 16,21) – es wird sogar die Zerstörung dieser Male eingeschärft (Ex 34,10-14). Die Etymologie des Namens Betel (»und [Jakob] nannte diesen Ort Beth-El; zuvor aber hieß die Stadt Lus« Gen 28,19 Schlachter) deckt sich nicht mit Jos 16,2, wo Betel und Lus zwei verschiedene Orte zu sein scheinen. Möglicherweise will diese Ätiologie (von gr. aítion = Ursache, Grund und lógos = Lehre; eine Sage zur Erklärung auffälliger Bräuche, Erscheinungen und Namen) also vor allem den Befund verschleiern, dass in Betel ursprünglich ein kanaanäisches Heiligtum stand, bevor es zum JHWH Heiligtum des Nordreiches wurde.

Noch einen Schritt weiter geht Othmar Keel in seinem Werk „Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus„: er vermutet, dass die Vorlage der Erzählung vom goldenen Kalb den ursprünglichen Gründungsmythos des Heiligtums, nämlich die Erschaffung des Bildes durch Aaron, berichtet habe. Besonders Augenmerk legt er dann auf die Zerstörung dieses uralten Heiligtums im Zug der joschijanischen Kultreform (2 Kön 23,15 ff). Obwohl die Assyrer das Stierbild wahrscheinlich schon deportiert hätten, musste das deuteronomistische Geschichtswerk diese Profanierung ausführlich begründen, und tat dies mit der umfangreichen Erzählung vom Gottesmann aus Juda (1 Kön 12,26-13,34), die dann in 2 Kön 23 zitiert wird.

Gleichzeitig berichtet 2 Kön 17,24-28, wie die Assyrer den JHWH-Kult in Betel am Leben erhielten; Keel vermutet hier den Ausgang der Überlieferung von Jakob als Stifter des alten Heiligtums, die sich dann in Gen 28 wiederfindet.

Fazit

Man sieht an diesem unvollkommenen Überblick, wie sehr der biblische Text Ausleger aller Zeiten beschäftigt hat – was für die Qualität der Erzählung spricht. Bedenklich scheint mir die mit Climacus einsetzende Engführung der Auslegung auf das Mönchtum. Doch so spannend auch die historischen, archäologischen und religionsgeschichtlichen Hypothesen der historisch-kritischen Forschung zu der Betel Tradition sind – mir persönlich scheint der spirituelle Zugang der alten Ausleger zu diesem Text einfach ergiebiger zu sein. Als symbolisches Bild der Gottesbegegnung ist Gen 28,10 ff. ein zeitlos aktueller Text, der freilich durch seine Verankerung in der Geschichte des Alten Israel und seine unbestreitbaren innnerbiblischen Querbezüge deutlicher konturiert wird.

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