Vor kurzem habe ich mich mit einem Text beschäftigt, der mir wie ein konzentrierter Ratschlag von Meistern des Umgangs mit der Heiligen Schrift vorkam – daher will ich den Inhalt hier kurz darstellen.
Im Mischna Traktat Megilla (=Festrolle) diskutieren die Rabbinen die Frage, unter welchen Bedingungen die Halacha betreffend der Lesung des Buches Ester zu Purim befolgt ist. Was sie dabei als Kriterien festlegten, scheint mir auf alle Bücher der Bibel, ja, auf die Heilige Schrift insgesamt anwendbar:
»Wer die Rolle rückwärts liest, hat seiner Pflicht nicht genügt.
Hat er sie auswendig gelesen,
hat er sie in einer Übersetzung gelesen, gleichviel in welcher Sprache, so hat er seiner Pflicht nicht genügt.
Doch liest man sie den Fremdsprachigen in fremder Sprache vor;
Hat sie ein Fremdsprachiger assyrisch gehört, so hat er seiner Pflicht genügt.
Las er sie mit Unterbrechungen oder im Halbschlummer, hat er seiner Pflicht genügt.
War er mit ihrer Abschrift, Auslegung oder Berichtigung beschäftigt, so hat er, wenn er seinen Sinn darauf richtete, seiner Pflicht genügt, andernfalls aber sie nicht erfüllt.« (mMegilla II,1-2; Übersetzung Eduard Baneth).
Hier meine Interpretation: Wer die Rolle rückwärts liest, hat seiner Pflicht nicht genügt. Das wirkliche Verständnis der Bibel erfordert eine kontinuierliche Lektüre eines ganzen Buches, von vorne nach hinten. Die lateinische Tradition nennt das lectio continua. Wer nur ausgewählte Bruchstücke liest und den gesamten biblischen Kontext nicht kennt, geht an wesentlichen Aspekten des Textes vorbei: lo yatsa – er hat dem Anspruch des Textes nicht genügt.
Hat er sie auswendig gelesen … Die schlimmsten Fehler im Umgang mit der Bibel passieren mir mit den Texten, die ich gut zu kennen glaube. Je öfter ich ihren Inhalt referiert oder ausgelegt habe, desto größer ist die Gefahr, den Text selbst gar nicht mehr wahrzunehmen. Ich assoziiere dann nur noch über mein Vorverständnis. Einziges Heilmittel: den Text wieder neu und aufmerksam lesen. Sonst gilt wieder: lo yatsa.
Hat er sie in einer Übersetzung gelesen … Die Mischna spricht hier vom Targum, also der aramäischen Übersetzung des hebräischen Textes. Aber: jede Übersetzung ist Interpretation und damit Entfernung vom ursprünglichen Text. Also, wer kann, der lese die Ursprache, es droht sonst das bereits bekannte lo yatsa.
Doch liest man sie den Fremdsprachigen in fremder Sprache vor … Auch die Rabbinen wussten, dass man nicht bei allen Menschen die Kenntnis des Hebräischen voraussetzen kann. Man liest vor bedeutet für mich hier, dass man niemand bei der Lektüre der Schrift allein lässt. Oder: dass Bibellesen immer auf einen Kontext bezogen sein sollte, in dem ich die Möglichkeit habe, zu lernen. Wie auch immer, auch ohne Fremdsprachenkenntnisse kann man ein yatsa erreichen.
Hat sie ein Fremdsprachiger assyrisch gehört … Das bezieht sich meiner Meinung nach auf die „assyrische“ Schrift – gemeint ist die hebräische Quadratschrift. Mit anderen Worten: die Rabbinen haben so eine hohe Meinung vom Ursprungstext, dass sie sogar sein Anhören (ohne Chance des Verstehens!) als yatsa anerkennen. Für mich bedeutet das: es ist unheimlich wichtig, die hebräische Lesart wenigstens einmal gehört zu haben.
Las er sie mit Unterbrechungen oder im Halbschlummer … Die Rabbinen wussten, dass ein berufstätiger Mensch zu kämpfen hat, wenn er die Bibel lesen will. Unterbrechungen sind notwendig, man kämpft mit der Konzentration. Das ist ok – yatsa.
Von dem professionellen Bibelausleger aber wird verlangt, dass er seinen Sinn auf den Text richtet – offensichtlich kann es eine – wenn ich so sagen darf – hauptamtliche Befassung mit der Bibel geben, von der gesagt werden muss: lo yatsa. Die lateinische Tradition formuliert das so: der Text muss in dem Geist gelesen werden, in dem er geschrieben wurde (Dei verbum, III, 12).