Ein spannender Text, was seine Übersetzung und Auslegung angeht, ist Dtn 32,8. Hier spielt es alle Stückerln, wie man in Wien sagen würde. Je nachdem welche Textzeugen man befragt, kommt man zu ganz unterschiedlichen Aussagen. In der Einheitsübersetzung lautet der Vers aus dem Lied des Mose: »Als der Höchste (den Göttern) die Völker übergab, / als er die Menschen aufteilte, / legte er die Gebiete der Völker / nach der Zahl der Götter fest«. Relativ ungewöhnlich ist, dass die EÜ in einer Fußnote eine Begründung für ihre Übersetzung anführt. Dort wird konzediert, dass es auch noch eine andere Lesart gebe: »nach der Zahl der Söhne Israels« – diese sei aber jünger, da der ältere Text sich ungeniert polytheistischer Anschauungen bediene; mit der Zahl sei die 70 gemeint.
In Wahrheit ist es natürlich komplizierter – aber zunächst einmal der Reihe nach. Der masoretische Text hat: »Da der Höchste den Völkern Besitz gab, da er abteilte die Menschensöhne, stellte er fest Grenzen der Stämme nach Anzahl der Kinder Jisrael«. (Übersetzung: Zunz)
Der kritische Apparat der Biblica Hebraica Stuttgartensia (BHS) gibt folgende Hinweise: das Targum Pseudo-Jonathan, eine alte kommentierende Übersetzung ins Aramäische, liest: »nach der Anzahl der Siebzig Söhne Israels«, hinter dieser Lesart steht offensichtlich Dtn 10,22. Qumran und Septuaginta lesen »nach der Zahl der Engel Gottes«. Als wahrscheinlich richtige Lesart nennt die BHS nach der Vetus Latina und einer syrischen Fassung der Hexapla des Origenes folgende Version: »nach der Zahl der Söhne Gottes«.
Ich persönlich halte des doppelte Textzeugnis von Qumran und LXX für die am besten bezeugte Lesart. Es wäre nicht das erste Mal, dass beide eine ältere hebräische Fassung bewahrt hätten, als der masoretische Text. Die »wahrscheinlich richtige« Lesart der BHS stützt sich auf nicht wirklich zwingende Textzeugen und vor allem auf die lectio difficilior – das Prinzip der schwierigeren Lesart. Demnach ist es wahrscheinlicher, dass eine schwierigere Lesart nachträglich korrigiert, als dass eine unproblematische Lesart durch Abwandlung erschwert wurde.
Wie auch immer – für mich bleibt unverständlich, wieso die EÜ gegen alle Textzeugen von »Göttern« spricht – denn dass der Text jemals so gelautet haben soll, ist reine Fiktion. Dazu kommt, dass in der lateinischen Tradition die Ordnung der Völker anhand der »Anzahl der Engel Gottes« bis heute eine wichtige Rolle spielt. Die von mir vor kurzem erwähnte Auslegung des Noach-Bundes durch den Katechismus der katholische Kirche beruft sich ausdrücklich auf die LXX-Fassung von Dtn 32,8.
Wer einen erschöpfenden und umfassenden Überblick zur Auslegungsgeschichte der biblischen Vorstellung von der Ordnung der Völker und Sprachen lesen möchte, sei auf dieses großartige Werk verwiesen.
Die ursprüngliche Fassung lautete wohl wie folgt:
5. Mose 32
8 Als EL ELJON seinen Söhnen die Völker übergab, als er die Menschen in Nationen aufteilte, legte er die Gebiete der Völker nach der Zahl der siebzig Söhne Gottes fest. 9 JAHWE aber nahm sich Israel als sein Volk zum Anteil; Jakob wurde sein Erbe.
Dieser mysteriöse Text liefert noch alte Hinweise auf eine vormonotheistische, polytheistische Urfassung: Es handelt von dem höchsten Gott EL ELJON, der die Menschen in 70 Nationen aufteilt und jeder Nation einen seiner 70 Gottessöhne als Stammesgott zuteilt. Seinem Sohn JAHWE aber wird das Volk Israel als Schutzgott zugwiesen. Siehe hierzu auch die Tontafeln von Ugarit, die einen Gott JW als „Sohn des EL“ nennen.
Den späteren Überarbeitern war daran gelegen, alle Hinweise zum Polytheismus bzw. Monolatrismus aus der Bibel auszumerzen. Daraus ist die heute schwer verständliche Übersetzung zu erklären.
Ihre Auskunft überzeugt mich nicht. Zu Ugarit schreibt Manfred Krebernik: „For the period and area in question, sources in cuneiform and Ugaritic script have yielded so far no clear evidence of Yhwh.“ (In: The Origins of Yahwism. Edited by Jürgen van Oorschot and Markus Witte (2017) S. 64) Und warum sollen wir davon ausgehen, dass die professionellen Schreiber der biblischen Texte so potschert waren, eine ihnen unangenehme Tradition auf so auffällige Weise zu verschleiern? Das ist wishful thinking im Geist der religionsgeschichtlichen Schule und atmet den Geist des 19. Jh. Man hat zwar keinen einzigen Textzeugen, ist aber sicher, zu wissen, was die antiken Schreiber eigentlich sagen wollten.