Sechshundertsechsundsechzig?

Die wohl bekannteste Zahl der Bibel lautet 666 und über ihre Bedeutung sind unzählige Beiträge verfasst worden. Um die Sache zu verkomplizieren, möchte ich hier darauf hinweisen, dass es keinesweges gesichert ist, dass die Zahl in Offb 13,18 ursprünglich 666 lautete. Denn wirklich gut bezeugt ist auch die Lesart 616.

Ich beginne mit der Handschrift p¹¹⁵ – auch bekannt unter dem Namen Papyrus Oxyrinchos 4499. Dankenswerterweise stellt wikimedia commons folgendes Bild des Textzeugen zur Verfügung, das Institut für neutestamentliche Textforschung bietet dazu hier die Transkription.

p¹¹⁵ - Papyrus Oxyrinchos 4499
p¹¹⁵ – Papyrus Oxyrinchos 4499

Auf dem Bild durch einen Pfeil hervorgehoben sind die überstrichenen griechischen Buchstaben Chi – Iota – Stigma (sigma finalis). In der Antike verwendete man keine arabischen Zahlen, sondern den Buchstabenwert des jeweils eigenen Alphabets. Der hier angegebene Zahlenwert beträgt aber 616. Der Papyrus ist alt, die Münsteraner Wissenschaftler datieren ihn ins 3./4. Jh.

Codex Ephraemi Syri rescriptus

Einer der wichtigsten Textzeugen des NT ist der Codex Ephraemi Syri rescriptus. Er heißt so, weil der biblische Text im 12. Jahrhundert „abgewaschen und mit 38 Traktaten [des Kirchenvaters] Ephraems [des Syrers] in griechischer Übersetzung neu beschrieben wurde, der berühmteste Palimpsest des Neuen Testaments (von den 263 Majuskeln sind immerhin 63 Handschriften Palimpseste).“ 1 Hier ein Bild in der Ausgabe des Codex von Tischendorf:

Codex Ephraemi Syri rescriptus Offb 13,18
Codex Ephraemi Syri rescriptus Offb 13,18

Erfreulicherweise ist in der Majuskel das Zahlenwort ausgeschrieben (Zeile 40): ΕΞΑΚΟΣΙΑΙ ΔΕΚΑ ΕΞ (hexakosiai deka hex) – 616. Die ursprüngliche Handschrift stammt aus dem 5. Jh.

Irenäus von Lyon

Wie weit verbreitet die Lesart 616 war, bezeugt dieser Abschnitt aus dem Hauptwerk des Irenäus von Lyon, das aus dem späten 2. Jh. stammt. 2 Die entsprechende Passage ist nicht nur in einer anonymen lateinischen Übersetzung auf uns gekommen, sondern liegt sogar in griechischen Fragmenten vor (die von Eusebius in seiner Kirchengeschichte überliefert wurden). Ich biete hier zunächst den Text der griechischen Passagen:

τούτων δὲ οὕτως ἐχόντων, καὶ ἐν πᾶσι τοῖς σπουδαίοις καὶ ἀρχαίοις ἀντιγράφοις τοῦ ἀριϑμοῦ τούτου κειμένου καὶ μαρτυρούντων αὐτῶν ἐκείνων τῶν κατ̓ ὄψιν τὸν Ἰωάννην ἑoρακότων καὶ τοῦ λόγου διδάσκοντος ἡμᾶς ὅτι ὁ ἀριϑμὸς τοῦ ὀνόματος τοῦ ϑηρίου κατὰ τὴν Ἑλλήνων ψῆφον διὰ τῶν ἐν αὐτῷ γραμμάτων ἐμφαίνεται.
καὶ ὑποκαταβὰς περὶ τοῦ αὐτοῦ φάσκει
‘ἡμεῖς οὖν οὐκ ἀποκινδυνεύομεν περὶ τοῦ ὀνόματος τοῦ ἀντιχρίστου ἀποφαινόμενοι βεβαιωτικῶς. εἰ γὰρ ἔδει ἀναφανδὸν <ἐν> τῷ νῦν καιρῷ κηρύττεσϑαι τοὔνομα αὐτοῦ, δἰ ἐκείνου ἂν ἐρρέϑη τοῦ καὶ τὴν ἀποκάλυψιν ἑορακότος: οὐδὲ γὰρ πρὸ πολλοῦ χρόνου ἑωράϑη. ἀλλὰ σχεδὸν ἐπὶ τῆς ἡμετέρας γενεᾶς, πρὸς τῷ τέλει τῆς Δομετιανοῦ ἀρχῆς.
(GCS IX,1 S. 444)

„Die Sache verhält sich so, und in allen bewährten und alten Handschriften findet sich diese Zahl [nämlich 666]. Und auch jene, welche Johannes von Angesicht gesehen haben, bezeugen es, und die Rechnung lehrt uns, daß sich die Namenszahl des Tieres nach griechischer Zählung aus den Buchstaben des Namens ergibt.“
Bald darauf sagt er über denselben Johannes:
„Wir wagen es nun nicht, über den Namen des Antichrist etwas mit Sicherheit zu behaupten. Wenn sein Name in der jetzigen Zeit hätte bekannt werden sollen, dann wäre er durch den mitgeteilt worden, der auch die Offenbarung geschaut hat. Denn nicht vor langer Zeit wurde sie geschaut, sondern beinahe in unseren Tagen, nämlich gegen das Ende der Regierung des Domitian.“ (HE V,8,5-6; Ü: Philipp Häuser BKV)

Ein weiteres Fragment aus Eusebius, das Nicephorus 3 überliefert hat:

Οὐκ οἶδα πῶς ἐσφάλησάν τινες ἐπακολουθήσαντες ἰδιωτισμῷ, καὶ τὸν μέσον ἠθέτησαν ἀριθμὸν τοῦ ὀνόματος, νʹ ψήφους ὑφελόντες, καὶ ἀντὶ τῶν ἓξ δεκάδων μίαν δεκάδα βουλόμενοι εἶναι. Ἄλλοι δὲ ἀνεξετάστως τοῦτον λαβόντες, οἱ μὲν ἁπλῶς καὶ ἀκαίρως ἐπετήδευσαν˙ οἱ δὲ κατὰ ἀπειροκαλίαν ἐτόλμησαν καὶ ὀνόμα ἀναζητεῖν ἔχον τὸν ἐσφαλμένον καὶ διημαρτημένον ἀριθμόν. Ἀλλὰ τοῖς μὲν ἁπλῶς καὶ ἀκάκως τοῦτο ποιήσασιν, εἰκὸς καὶ συγγνώμην ἔσεσθαι παρὰ Θεοῦ. Ὅσοι δὲ κατὰ κενοδοξίαν ὁρίζουσιν ὀνόματα διημαρτημένου ἀριθμοῦ νενομοτεθῆσθαι, καὶ τὸ ὑπ‘ αὐτῶν ἐπινοηθὲν ὄνομα ὁρίσονται … οὐκ ἀναίτιοι οὖτοι ἐξελεύσονται, ἔτι καὶ αὑτοὺς, καὶ τοὺς ἐμπιστεύσαντας αὐτοῖς ἐξαπατήσαντες. (Sancti Irenaei Libros quinque adverses Haereses, Ed. Wigan Harvey II, S. 406-407)

Ich weiß nicht, wie sich einige täuschen konnten, die sich einer Sondermeinung anschlossen, und die mittlere Zahl des [Zahlen]Namens verworfen haben, indem sie fünfzig Rechensteine abzogen, und wollten, dass anstatt von sechs Zehnern ein Zehner sein sollte. Andere aber haben das ungeprüft übernommen, die sich einfach vergeblich bemüht haben: die es aber aus Geschmacklosigkeit wagten auch den [Zahlen]Namen zu erforschen, wobei sie eine täuschende und völlig verfehlte Zahl [vorliegen] hatten. Wieder andere, die das einfach und arglos getan haben, denen wird aller Wahrscheinlichkeit nach von Gott verziehen werden. Alle welche aber aus Ruhmsucht Namen bestimmten, die von einer völlig verfehlten Zahl getäuscht wurden, und in Folge ihres Ausdenkens Namen bestimmten … diese werden nicht schuldlos herauskommen, zudem haben sie sowohl sich selbst, als auch die, die ihnen vertrauten, verführt. (Adv. Haer. V,30,1; MÜ)

Der lateinische Übersetzer des Buches fügt noch folgende Erklärung für die Zahl 616 hinzu:

Hoc autem arbitror scriptorum peccatum fuisse, ut solet fieri, quoniam et per literas numeri ponuntur, facile literam Graecam, quae sexaginta enuntiat numerum, in iota Graecorum literam expansam; (Harvey, ebenda)

Ich vermute aber, dass dies ein Fehler der Schreiber gewesen ist, wie er gewöhnlich vorkommt: Weil sie die Zahlen auch durch Buchstaben wiedergeben, konnte der griechische Buchstaben, der die Sechzig darstellt, leicht zu einem Buchstaben der Griechen, dem Iota verlängert werden. (Adv. Haer., V,30,1; MÜ)

Also, statt χξς (666) hätten die Schreiber versehentlich χις (616) geschrieben.

Tyconius

Der nordafrikanische Theologe (wirkte um 370-390) beeinflusste mit seinem Liber regularis maßgeblich Augustinus. 4 Laut dem Werk De viris illustribus des Gennadius von Marseille schrieb Tyconius einen Kommentar zur Offenbarung des Johannes, die in Fragmenten überlebt hat. „In 13,18 las Tyconius die Variante 616 und bekräftigte damit deren seit Irenaeus diskutiertes Gewicht.“ 5 Daher findet sich diese Lesart in der Vetus Latina – als sexcenti sedecim.

Die Lesarten der Vetus latina zu Offb 13,18
Die Lesarten der Vetus latina zu Offb 13,18

Zusammenfassung

Die von Irenäus bezeugte frühe und weite Verbreitung der Lesart, die ihren Niederschlag in den Handschriften (C + p¹¹⁵; VL) und Kommentaren (Tyconius) gefunden hat, macht es in meinen Augen unmöglich, sie einfach beiseite zu wischen. Alle, die sich an die Auslegung dieser Zahl machen, müssen damit leben, dass sie in zweifacher Weise auf uns gekommen ist.

Fußnoten:

1

Kurt und Barbara Aland: Die Handschriften des Neuen Testamentes, S. 118

2

Irenäus war seit 178 Bischof von Lyon; vgl. Charles Kannengiesser: A Handbook of Patristic Exegesis, S. 477

3

Nach Migne (MPG VII, 1203 Fn. 80) und Harvey (II, 406, Fn. 1) stammt das Bruchstück aus einem bei Nicephorus überlieferten Zitat aus der KG des Eusebius, beide geben IV,14 als Fundort an.

4

Zur Würdigung dieses Werkes siehe Kannengiesser, S. 1139 ff. (a.a.O)

5

Martin Karrer: Johannesoffenbarung. EKK XXIV/1 S. 128

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