Während sich die Datierung der kanonischen Evangelien seit Jahrzehnten im Kreis dreht, sieht es bei den Briefen des Apostels deutlich besser aus. Und das hängt mit einer Inschrift in Delphi zusammen, die Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt wurde.
In Apg 18,11 wird berichtet, dass sich Paulus ein Jahr und sechs Monate in Korinth aufhielt. Danach fährt der Bericht fort:
Apg 18,12; NA XXVIII | Apg 18,12; Elberfelder |
Γαλλίωνος δὲ ἀνθυπάτου ὄντος τῆς Ἀχαΐας κατεπέστησαν | Als aber Gallio Prokonsul von Achaja war, traten |
⸉ὁμοθυμαδὸν οἱ Ἰουδαῖοι⸊ ⸂τῷ Παύλῳ καὶ⸃ ἤγαγον αὐτὸν | die Juden einmütig gegen Paulus auf und führten ihn |
ἐπὶ τὸ βῆμα | vor den Richtstuhl. |
Wer war Gallio?
Von Gallio wissen wir, dass er ein Bruder der Philosophen Seneca war, der in Ep. 104,1 von ihm berichtete, dass er während seiner Zeit in Achaia krank geworden sei und deshalb ein Schiff bestiegen habe, clamitans
non corporis esse, sed loci morbum – „wobei er beklagte, dass die Krankheit nicht eine des Körpers, sondern eine des Ortes sei“. Auch Tacitus berichtet An. XV,73 unter Nero von einem politischen Angriff auf Gallio im Senat
und nennt ihn dabei ausdrücklich einen Bruder des Seneca (Senecae fratris). Eine alte deutsche Übersetzung dieser Szene findet sich hier. Cassius Dio berichtet in seiner Römischen Geschichte LX,35 (Griechisch – Englisch) von einem Bonmot des Gallio anlässlich der Ermordung des Claudius durch Nero und bezeichnet ihn ebenfalls als Λούκιος Ἰούνιος Γαλλίων ὁ τοῦ Σενέκα ἀδελφὸς – „Lucius Junius Gallio, der Bruder des Seneca“. Im selben Werk in LXII,25,3 erwähnt er, dass nach dem erzwungenen Selbstmord Senecas auch alle seine Brüder starben: καὶ οἱ ἀδελφοὶ ὕστερον ἐπαπώλοντο – „auch die übrigen Brüder gingen zugrunde“ (Englisch
hier). Derselbe Cassius Dio berichtet in seiner römischen Geschichte LX,24,1, dass Claudius Achaia in eine senatorische Provinz umgewandelt habe.1 Wann aber war Gallio Prokonsul von Achaia?
Die Delphi-Inschrift
Bei der Beantwortung dieser Frage helfen mindestens zwei antike Inschriften, deren erste Anfang des 20. Jahrhunderts in Delphi gefunden wurde. Sie war in 9 Fragmente zerbrochen, von denen Adolf Deissmann 1911 vier veröffentlichte.
Sie enthielt einen Brief des Kaisers Claudius, hier ebenfalls in der Fassung von Deissmann.
1915 hat Wilhelm Dittenberger den Text im
Band 2 der Sylloge Inscriptionum Graecarum rekonstruiert. Ich gebe hier die entscheidenden Zeilen nach der Epigraphic Database Heidelberg wieder:
ΤΙΒΕΡ[ ]ΑΡ Σ[ ]ΟΣ Γ[ ]
ΣΙΑΣ [ ]Ο ΚϚʹ Π[ ]ΑΤΡΙ[ ]
Die Lücken wurden dahingehend ergänzt:
Τιβέρ[ιος Κλαύδιος Καῖσ]αρ Σ[εβαστ]ὸς Γ[ερμανικός, δημαρχικῆς ἐξου]
σίας [τὸ ιβʹ, αὐτοκράτωρ τ]ὸ κϛʹ, π[ατὴρ π]ατρί[δος
Auf Deutsch in etwa:
Tiber[ius Claudius Cäs]ar S[ebast]os2, G[ermanikus, Tribuzinische Ge]
walt [die zwölfte, zum Imperator ausgerufen z]um 26. Mal, Vater des Vaterlandes
Gallio wird dann etwas später im Text angesprochen:
ΝΥΝ ΛΕΓΕΤΑΙ ΚΑΙ [ ]ΕΙΤΩΝ ΕΡΗ[ ]Σ ΕΙΝΑΙ Ω[ ]
ΝΙΟΣ ΓΑΛΛΙΩΝ Ο Φ[ ] ΜΟΥ ΚΑ[ ]ΠΑΤΟΣ [ ]
Die Epigraphische Datenbank rekonstruiert das als
νῦν λέγεται καὶ [πολ]ειτῶν ἔρη[μο]ς εἶναι, ὥ[ς μοι? ἄρτι ἀπήγγειλε? Λ(ούκιος) Ἰού]-
νιος Γαλλίων ὁ φ[ίλος] μου κα[ὶ ἀνθύ]πατος, []
Das würde ich so übersetzen:
jetzt wird gesagt, dass sie auch ein von [Bür]gern verla[sse]ner Ort sei, w[ie mir? vor kurzem berichtete? L(ucius) Ju-]
ius Gallio, der mein Fr[eund] un[d Pro]konsul ist, []
Auch wenn hier viel emendiert wurde, bleibt doch eindeutig die Rede von Gallio, der mit dem gleichen Titel bezeichnet wird, wie in Apg 18,12: ἀνθύπατος – Prokonsul. Claudius herrschte von 41-54 n. Chr.; seine sechsundzwanzigste imperatorische Proklamation fällt nach Réné Gagnat in das Jahr 52. Dass es sich um die zwölfte Verleihung der tribuzinischen Gewalt handelt, ist im Text so nicht lesbar, sondern eine Rekonstruktion. Der Grund dafür verdankt sich einer weiteren Inschrift.
Die Inschrift auf der Porta Maggiore in Rom
Made by Joris van Rooden, wikimedia
commons
Bei diesem Tor handelt es sich eigentlich um einen Bogen für zwei Wasserleitungen, wie man an diesem Bild erkennen kann:
User: Lalupa, public domain, wikimedia commons
Werfen wir einen Blick auf die obere Inschrift, wie Ètienne du Pérac sie im 16. Jahrhundert gezeichnet hat:
Bild via Archive.org
Sie lautet:
CLAUDIUS DRUSI F. CAESAR AUGUSTUS GERMANICUS PONTIF MAXIM TRIBUNICIA POTESTATE XII COS V IMPERATOR XXVII PATER PATRIAE AQUAS CLAUDIAM EX FONTIBUS QUI VOCABANTUR CAERULEUS ET CURTIUS A MILLIARIO XXXXV ITEM ANIENEM NOVAM A MILLIARIO LXII SUA IMPENSA IN URBEM PERDUCENDAS CURAVIT
T[iberius] Claudius Drusi f[ilius] Caesar Augustus Germanicus pontif[ex] maxim[us] tribunicia potestate XII co[n]s[ul] V imperator XXVII pater patriae aquas Claudiam ex fontibus qui vocabantur Caeruleus et Curtius a milliario XXXXV item Anienem novam a milliario LXII sua impensa in urbem perducendas curavit
Tiberius Claudius, Sohn des Drusus, Caesar Augustus Germanicus,
pontifex maximus, [in seiner] zwölften tribuzinischen Gewalt,
[zum]fünf[ten Mal] Konsul, [zum] siebenundzwanzig[sten Mal zum]
Imperator [ausgerufen], Vater des Vaterlandes, sorgte er dafür, dass die
Wasser[leitung] Claudia aus den Quellen, die Caerulius und Curtius
genannt werden, vom 45. Meilenstein, ebenso [die Wasserleitung] Anio
Novus vom 62. Meilenstein auf seine Kosten in die Stadt geleitet werden
konnten.
Hier sind wir also eindeutig in der zwölften tribuzinischen Amtsgewalt, allerdings nach der siebenundzwanzigsten Proklamation zum Imperator. Auf der Inschrift von Delphi war es die sechsundzwanzigste. Wann hatte Claudius die Aquaeducte errichten lassen?
Der Bericht des Sextus Iulius Frontinus
Der römische Historiker (gestorben nach 100 n. Chr.3) berichtet in seinem Werk „Über die Aquaeducte der Stadt Rom“, dass Claudius am 1. August des Jahres 803 nach Gründung der Stadt Rom zwei Wasserleitungen vollendet habe, die sein Vorgänger Caligula im Jahr 791 nach der Gründung Roms begonnen hatte.
Post hos C. Caesar, qui Tiberio successit, cum parum & publicis usibus & privatis voluptatibus septem Ductus Aquarum sufficere viderentur, altero Imperii sui anno, M. Aquillio Iuliano, P. Nonio Asprenate coss. anno Urbis Conditae DCCLXXXVIII, duos Ductus inchoavit: quod opus Claudius magnificentissime consummavit, dedicavitque, Sulla & Titiano coss. anno post Urbem Conditam DCCCIII, Kalendis Augustis.
(Quelle)
Nach diesen begann Gaius Caesar4, der dem Tiberius nachfolgte, als die sieben Wasserleitungen sowohl dem öffentlichen Verbrauch als auch dem privaten Genuss nicht mehr zu genügen schienen, im zweiten Jahr seiner Herrschaft, während des Konsulats von Marcus Auila Julianus und Publius Nonius Asprenas, im Jahr 788 nach der Gründung der Stadt [Rom], zwei [weitere] Leitungen [zu bauen]. Dieses Werk hat Claudius in großartigster Weise vollendet und weihte es während des Konsulats von Sulla und Titianus ein, im Jahr 803 nach der Gründung der Stadt, am ersten August. (De Aquaeductibus Urbis Romae Commentarius I,13)
Die Vollendung der beiden Wasserleitungen wird auch von Sueton in seiner Vita
Claudii XX berichtet. Die von Frontinus angegebenen Jahreszahlen weisen allerdings textkritische Probleme auf. Geht man vom kanonischen Gründungsdatum der Stadt Rom im Jahr 753 v. Chr. aus, hat Claudius die beiden Quellen im Jahr 50 eingeweiht. Der Apparat weist aber daraufhin, dass in anderen Handschriften des Werkes das Jahr 806 (anno
octigentesimo sexto = 53 n. Chr.) angeben wird, eine weitere gibt gar den 6. August des Jahres 800 an (DCCC = 47 n. Chr.). So ergibt sich. je nachdem welche Frontinus Handschrift man zugrunde legt, folgende Übersicht:
Nach Cagnat fällt die in der Inschrift der Porta Maggiore erwähnte 27. imperatorische Proklamation in die Zeit von 52-53 n. Chr. Das deckt sich zumindest mit den Angaben einer der in der Frontinus-Überlieferung genannten Zahlen. Wir können daher mit einer gewissen Zuversicht annehmen, dass Paulus Anfang der 50er Jahre vor dem Richtstuhl des Gallio in Korinth erscheinen musste.
Zur Chronik der Apostelgeschichte
In der einschlägigen Literatur wird unter Berufung auf die antiken Zeugnisse bisweilen mit großer Zuversicht die Szene in Apostelgeschichte
18 datiert: „Sommer des Jahres 51“5; „zwischen dem 1.7.51
und dem 30.6.52“6. Vorsichtiger ist Ingo Broer, der im Zweifel „vom Ende der Amtszeit im Juni 52, also dem spätestmöglichen Zeitpunkt der Begegnung zwischen Gallio und Paulus“, ausgeht7. Der großartige Kommentar zur Apostelgeschichte von Richard I. Pervo fasst das Ergebnis seiner detaillierten Untersuchung so zusammen:
The greatest allowance for safety yields a range of 49 to 54 for the
putative encounter between Paul and Gallio. 8
Doch diese Präzisierung auf gute 5 Jahre ist schon eine erstaunlich genaue Datierung, die so einmalig für das Neue Testament sein dürfte. Von diesem Punkt aus kann die zeitliche Einordnung der Paulusbriefe erfolgen.
- διδομένας ἀπέδωκεν ὁ Κλαύδιος τότε τῷ κλήρῳ – „gab Claudius auf, indem er sie damals dem Los überlässt“. Was dieser Ausdruck bedeutet, wird in dieser Ausgabe auf
S. 251 in der Fußnote 1 erklärt.↩︎ - Das griechische sebastos entspricht dem lateinischen Augustus.↩︎
- Vgl. den Artikel Frontinus in Band 2 von Der kleine Pauly, DTB 1979, 615↩︎
- Das C. ist die Abkürzung für Gaius und älter als die Einführung des Buchstabens G in das lateinische Alphabet (Vgl. Der kleine Pauly, Band 1, DTB 1979, 983. Es handelt sich um Kaiser Caligula (12-41 n. Chr.).↩︎
- Eva Ebel in: Oda Wischmeyer (Hrsg.): Paulus. Leben-Umwelt-Werk-Briefe; Narr Francke Attempto Verlag Tübingen (2006)
S. 85↩︎ - Stefan Schreiber in: Martin Ebner, Stefan Schreiber (Hrsg.): Einleitung in das Neue Testament; Kohlhammer Verlag Stuttgart,
²2013 S. 271. Schreiber ist sich sicher, dass die „Aqua Claudia“ am 1. August 52 in Betrieb genommen wurde (S. 270 a.a.o.).↩︎ - Ingo Broer in Verbindung mit Hans-Ulrich Weidemann: Einleitung in das Neue Testament; Echter Verlag, Würzburg (³2006) S.
294↩︎ - Acts. A Commentary by Richard I. Pervo. Edited by Harold W. Attridge; Fortress Press, Minneapolis (2009) S. 447↩︎