Rezension von „Die Propheten der Bibel“ von Reinhard G. Kratz

Der renommierte Alttestamentler Reinhard G. Kratz (Universität Göttingen) hat 2022 das Buch „Die Propheten der Bibel“ veröffentlicht. Ich habe es gelesen und lege hier den Erkenntnisgewinn meiner Lektüre dar.

In dem verständlich geschriebenen Werk geht Kratz durch diverse
Stationen der Auslegungsgeschichte, also der unterschiedlichen
Sichtweise der Propheten in der jahrtausendealten Auslegungsgeschichte,
wirft dann einen erhellenden Blick auf die Propheten im alten Orient um
anschließend auf ihre Funktion in den Königreichen Israel und Juda zu kommen.
Über die Bücher der Propheten fragt er dann nach den Anfängen der
prophetischen Überlieferung zurück, die diesen Büchern voraus liegt. In
mehreren Phasen gelangt er dabei entlang der Geschichte Israels/Judas
bis in die Zeit der Apokalyptik. Von dort geht es zu den Schriftrollen
vom Toten Meer, der Deutung der Propheten im (frühen) Christentum bis
hin zu den Propheten im Islam. In einem ungewöhnlichen Anhang werden
dann offene Fragen der aktuellen Prophetenforschung erörtert.

Ungewöhnlich an diesem Anhang ist meines Erachtens, dass Kratz hier
deutlich die Grenzen des heutigen Forschungsstandes aufzeigt.

Doch im Grunde genommen wissen wir nicht, was wir in den biblischen Prophetenbüchern vor uns haben. Wir wissen nicht, für welchen Zweck die Bücher verfasst wurden, wer sie ursprünglich gelesen hat und wie sie benutzt wurden. Vor allem wissen wir nicht, wer für die Abfassung der Bücher verantwortlich war, der Prophet selbst, seine «Schüler» oder anonyme Schreiber. (S. 202)

Dazu kommt deren durchaus komplexe Überlieferungsgeschichte:

Die Bücher der biblischen Propheten sind nicht nur in einer, sondern in verschiedenen Textfassungen überliefert, von denen einige erheblich von der masoretischen Textfassung abweichen. Für die Unterschiede bieten die antiken Versionen, besonders die griechische (Septuaginta), und die Handschriften vom Toten Meer reichlich Anschauungsmaterial. (S. 213)

Ein weiteres Problem, das Kratz benennt, ist der wackelige Boden
unter Entscheidungen, welche Texte auf mündliche Orakel zurückgehen
könnten und welche wohl von Anfang an als literarische Schöpfungen zu
betrachten sind:

Hierfür fehlen uns schlechterdings die Kriterien. (S. 205)

Überhaupt gilt:

Mit der historischen Eindordnung der literarischen Prophetie tut sich die Forschung schwer. (S. 211)

Dazu kommt bei der Überlieferung der ursprünglich mündlichen
Aussprüche:

Die altorientalischen Parallelen in Mari, Assur und vereinzelt auch im nordwestsemitischen Raum lassen erkennen, dass die Übermittlung, Aufzeichnung und Überlieferung von Prophetensprüchen ein überaus
komplexer Vorgang war. (S. 206)

Auch das führt zu der offen zugegebenen Schwierigkeit:

Eine vieldiskutierte, aber nach wie vor ungelöste Frage ist die nach dem historischen Ort und den Trägerkreisen der biblischen Prophetenüberlieferung. (S. 210)

Ich finde diese Ehrlichkeit nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit in
diesem Bereich bemerkenswert. Was ich als Leser mit diesem
Nachtragskapitel dann nicht mehr zusammengebracht habe, war die
Gewissheit, mit der die diachrone Entstehungsgeschichte der Bücher im
ersten Teil des Werkes nachgezeichnet wird. Um ein Beispiel für viele zu
nennen:

Auf S. 47-48 wird mit erstaunlicher Sicherheit geschildert, dass
Elischa historisch vor Elija gewesen wäre und die beiden ursprünglich
nichts miteinander zu tun gehabt hätten. In dieser Haltung wird auch der
Versuch unternommen, die komplexe Entstehungsgeschichte der
prophetischen Bücher nachzuzeichnen. Immerhin werden dabei auch immer wieder literarhistorische Rekonstruktionen im Konjuktiv gehalten. Doch für Kratz gilt axiomatisch:

Die Aufgabe der Prophetenforschung besteht darin, den Weg von der ursprünglich mündlichen, bei Gelegenheit vielleicht auch schriftlich fixierten Sprüchen eines Propheten zum vorliegenden Prophetenbuch zu rekonstruieren. (S. 205)

Mein Einwand: Macht nicht gerade sein Schlusskapitel deutlich, dass
diese Aufgabe gar nicht zu stemmen ist? Ich nehme einmal seine
Ausführungen zu Ezechiel:

Die Entstehung des Buches liegt weitgehend im Dunkeln. (S. 106) Klar ist, dass die Reden nicht in einem Zug entstanden sein können, doch fehlen noch vielfach die Kriterien, um die unzähligen Fortschreibungsschübe ins Verhältnis zu setzen und zum literarischen Kern der Überlieferung (…) vorzustoßen. (S. 107)

Ich würde pointierter formulieren: Es ist gar nicht möglich, mittels
literaturwissenschaftlicher Werkzeuge historische Fragestellungen zu
klären. Solange nicht einmal die Frage der unterschiedlichen
Texttraditionen geklärt ist, bleiben alle diese Rekonstruktionsversuche
hypothetisch. Denn, wie Kratz zu den Textfunden vom Toten Meer
schreibt:

Wie man die Vielfalt zu erklären hat, ist ein vieldiskutiertes Problem. Die einen postulieren einen – wenn auch nur annäherungsweise zu erreichenden – Urtext, von dem ausgehend sich die Vielfalt entwickelt
habe. Andere dagegen denken an unabhängig voneinander entstandene Texttraditionen. (S. 156)

Ein weiteres Problem hatte ich beim Lesen mit dem Wiederaufleben der
Graf’schen Hypothese „lex post prophetas“, in Kratz Worten:

In der literatur- und theologiegeschichtlichen Entwicklung folgte das Gesetz auf die Propheten und hat diese zur Voraussetzung. (S. 132)

Wird hier (z.B. auf der S. 21) nicht die von Kratz selbst für absolut
notwendig erachtete Differenzierung von Propheten und Prophetenbüchern
unterlaufen? Denn woher kommt angesichts der oben geschilderten
Schwierigkeiten die Gewissheit, dass die allfälligen Vorstufen der
prophetischen Literatur älter sind als die entsprechenden Vorstufen der
Tora?

Und zu guter Letzt: Was bringen die hypothetischen Rekonstruktionsversuche, mit denen versucht wird hinter einen Text zu gelangen, den „wir (primär) als historisches Zeugnis“ (S. 161) verstehen sollen? Diese „konsequente Historisierung“ (S. 198) soll ernsthaft zu
einer Verständigung zwischen Judentum, Christentum und Islam führen (S.
198)? Ich habe da meine Zweifel.

So bleibt für mich folgendes Resümee: Das Buch ist ein ehrliches und
ernsthaftes Zeugnis über den aktuellen Stand einer Forschungsrichtung,
deren Aporien an allen Ecken und Enden mit Händen zu greifen sind.

Reinhard Gregor Kratz: Die Propheten der Bibel. Geschichte und Wirkung.
236 S.; C.H. Beck Verlag 2022

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