Unser tägliches Brot gib uns heute

Die vierte Vaterunser-Bitte »unser tägliches Brot gib uns heute« wirft Fragen auf. Was genau ist damit gemeint? Und wie lässt sich der ursprüngliche Sinn rekonstruieren?

Ich meine, dass die einzige Möglichkeit dazu im Kontext der damaligen Zeit liegt – wie konnten die ersten Hörer dieses Wort verstehen? Und wie ist es überhaupt zu ihnen gekommen?

Wie ich bereits in diesem Blog dargelegt habe, ist uns das Vaterunser auf eine vierfache Weise überliefert worden. Ein Blick in eine Konkordanz zeigt, dass es nur bei Lukas und Matthäus vorkommt, was kein banaler Umstand ist, denn Markus kennt das Vaterunser nicht. 1 Für mich bedeutet das, dass das Gebet von den beiden Evangelisten aus der Logienquelle Q entnommen wurde. Praktisch identisch mit der Matthäus-Fassung ist die der Didache, einer frühchristlichen Gemeindeordnung, was spannende weitere Fragen aufwirft, auf die ich hier nicht eingehen will. 2 Dazu kommt der Befund, dass das heute in den deutschsprachigen christlichen Kirchen gebetete Vaterunser nicht mit der Fassung aus Mt oder Lk übereinstimmt, sondern eine eigene Mischform bildet.

Doch werfen wir einen Blick auf den Urtext: Lukas hat: τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν· (Lk 11,3) Ü: Unser nötiges Brot gib uns täglich!

Matthäus wiederum bietet: τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον· (Mt 6,11) 3 Ü: Unser nötiges Brot gib uns heute!

Was mit dem täglich oder eben heute nötigen Brot gemeint ist, ergibt sich meiner Meinung nach eindeutig aus der Tora, genauer aus dem 16. Kapitel des Buches Exodus. Hier werden genau Anweisungen bezüglich des Brotes vom Himmel gegeben, mit dem die Kinder Israel in der Wüste gesättigt werden:

וַיֹּאמֶר יְהוָה אֶל־מֹשֶׁה הִנְנִי מַמְטִיר לָכֶם לֶחֶם מִן־הַשָּׁמָיִם וְיָצָא הָעָם וְלָֽקְטוּ דְּבַר־יוֹם בְּיוֹמוֹ לְמַעַן אֲנַסֶּנּוּ הֲיֵלֵךְ בְּתוֹרָתִי אִם־לֹֽא׃

וְהָיָה בַּיּוֹם הַשִּׁשִּׁי וְהֵכִינוּ אֵת אֲשֶׁר־ יָבִיאוּ וְהָיָה מִשְׁנֶה עַל אֲשֶֽׁר־ יִלְקְטוּ יוֹם ׀ יֽוֹם

»Da sprach ER zu Mose: Siehe ich lasse euch Brot vom Himmel regnen, und das Volk wird hinausgehen und den Bedarf des Tages an jedem Tage auflesen – damit ich es versuche, ob es in meiner Weisung wandeln wird oder nicht.
Es wird nämlich am sechsten Tage geschehen, wenn sie es darauf absehen mit dem, was sie heimbringen werden, wird es Doppeltes von dem sein, was sie jeden Tag auflesen.« (Ex 16,4-5: Ü: Benno Jacob)

Was Jacob hier mit jeden Tag (יוֹם ׀ יֽוֹם) übersetzt, könnte man auch mit Tag für Tag wiedergeben.

Später heißt es dann:

זֶה הַדָּבָר אֲשֶׁר צִוָּה יְהוָה לִקְטוּ מִמֶּנּוּ אִישׁ לְפִי אָכְלוֹ עֹמֶר לַגֻּלְגֹּלֶת מִסְפַּר נַפְשֹׁתֵיכֶם אִישׁ לַאֲשֶׁר בְּאָהֳלוֹ תִּקָּֽחוּ׃ וַיַּעֲשׂוּ־כֵן בְּנֵי יִשְׂרָאֵל וַֽיִּלְקְטוּ הַמַּרְבֶּה וְהַמַּמְעִֽיט׃

»Dies ist das Wort, das ER geboten hat: leset davon auf, jeder nach seinen Mitessenden, ein Omer für den Kopf, nach der Zahl eurer Personen jeder für die in seinem Zelte werdet ihr nehmen.
Die bene Israel taten also; sie lasen auf, einer viel, einer wenig.« (Ex 16,16-17; Ü: Benno Jacob)

וַיָּמֹדּוּ בָעֹמֶר וְלֹא הֶעְדִּיף הַמַּרְבֶּה וְהַמַּמְעִיט לֹא הֶחְסִיר אִישׁ לְפִֽי־אָכְלוֹ לָקָֽטוּ׃

»Sie maßen mit dem Omer und es hatte kein überschießendes derjenige, der viel hatte, und derjenige der wenig hatte ermangelte nichts, jeder gemäß seinen Mitessenden hatten sie aufgelesen.« (Ex 16,18; Ü: Benno Jacob)

Auch die Frage, was denn ein Omer ist, wird am Ende des Kapitels beantwortet:

וְהָעֹמֶר עֲשִׂרִית הָאֵיפָה הֽוּא׃

»Das Omer aber ist ein Zehntel des Epha.« (Ex 16,36; Ü: Benno Jacob)

Wer sich darunter etwas vorstellen will, findet nähere Angaben in Ri 6,19; Sach 5,5-11; Rut 2,17. Auch wenn ich die wesentlichen Aspekte des Kapitels, die den Schabbat betreffen, weggelassen habe, so lässt sich für die vierte Vaterunserbitte doch sagen:

  • Gott stellt das Brot zur Verfügung, der Mensch aber muss es einsammeln.
  • Es wird um so viel gebeten, dass alle, die zusammenwohnen, jeden Tag satt werden.
  • Ex 16 verbietet es, die Nahrung schlecht werden zu lassen (vgl. V. 19-20)

Meiner Meinung nach wird so deutlich, was man ursprünglich mit dieser Bitte verbunden hat.

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  1. Als Argument für diese Behauptung bringe ich, dass es schwer vorstellbar erscheint, dass er es weggelassen hätte, wenn es ihm bekannt gewesen wäre.
  2. Kannte die Didache Mt? Oder bezog sie ihre Kenntnis des Gebetes ihrerseits aus Q?
  3. Die Didache hat den identischen Text wie Mt – siehe Fontes Christiani Band 1, S. 120; Herder Verlag 1991

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