Ich gab ihnen Satzungen, die nicht gut waren?

Zur Übersetzung und Auslegung von Ez 20,25-26

Die Aussage in gängiger Übersetzung

Im masoretischen Text lauten die beiden Verse:

וְגַם־אֲנִי נָתַתִּי לָהֶם חֻקִּים לֹא טוֹבִים וּמִשְׁפָּטִים לֹא יִֽחְיוּ בָּהֶֽם׃ וָאֲטַמֵּא אוֹתָם בְּמַתְּנוֹתָם בְּהַעֲבִיר כָּל־פֶּטֶר רָחַם לְמַעַן אֲשִׁמֵּם לְמַעַן אֲשֶׁר יֵֽדְעוּ אֲשֶׁר אֲנִי יְהוָֽה׃

Die Elberfelder übersetzt das so:

Und auch ich gab ihnen Ordnungen, die nicht gut waren, und Rechtsbestimmungen, durch die sie nicht leben konnten. Und ich machte sie durch ihre Gaben unrein, indem sie alle Erstgeburt des Mutterleibes durch das Feuer gehen ließen; damit ich ihnen Entsetzen einflößte, damit sie erkannten, dass ich der HERR bin. (Ez 20,25-26)

Diese Übersetzung ist insofern bemerkenswert, als das Wort ‚Feuer‘ in Vers 26 im Hebräischen gar nicht vorkommt. Abgesehen davon stimmen die wichtigsten deutschsprachigen Übersetzungen darin überein, dass Gott von sich sagt, er habe Israel schlechte Bestimmungen gegeben, die etwas mit der Darbringung der Erstgeburt zu tun hätten. Zum Vergleich hier noch die Wiedergabe in der Bibel in gerechter Sprache:

Da gab auch ich ihnen Bestimmungen, die nicht gut waren, und Rechtsordnungen, die Leben unmöglich machen. Ich selbst entwürdigte sie durch ihre Opfergaben, indem sie alle Erstgeburt zum Opfer brachten. So machte ich sie schreckensstarr – sie sollten doch erkennen, dass ich die Ewige bin.

In jedem Fall stellt dieser Satz, so übersetzt, eine absolute Singularität dar. Demnach habe ein Prophet von dem biblischen Gott gesagt, dass er schlechte, todbringende Gebote gegeben habe. Das erstaunliche ist, dass diese Aussage im deutschen Sprachraum kaum jemand ungewöhnlich zu finden scheint. Da kann man in einem Kommentar dann schon einmal lesen:

Gott ließ es damals nicht nur zu, nein, er verlangte sogar, daß man ihm wie einem Götzen Menschen zum Opfer darbrachte. Wie er Israel ein gutes Gesetz gab, ein gnädiges, am Leben erhaltendes Gebot, so gab er seinem Volk nun auch ein blutig grausames Gesetz, um es nicht nur mit langmütigster Liebe, sondern auch mit härtester Strenge versucht zu haben. (Robert Brunner, Das Buch Ezechiel 1. Band. Zürcher Bibelkommentare, Zwingli Verlag Zürich ²1969, S. 231)

Im englischen Sprachraum ist man da deutlich weiter, hier ist die Rede von der theologisch problematischsten Stelle des Buches1, dem rätselhaften Charakter dieser Verse2, einem bizzaren Motiv3 oder einem schockierenden Paradox bzw. einer notorischen Crux für die Ausleger4. Wie aber ist der Text in der Antike verstanden worden?

Septuaginta

Die griechische Übersetzung des Ezechiel-Buches dürfte aus der Mitte des 2. Jh. vor der allgemeinen Zeitrechnung stammen. 5 Sie liegt damit näher an der ursprünglichen hebräischen Fassung des Buches als alle anderen von mir herangezogenen Auslegungen. LXX liest:

καὶ ἐγὼ ἔδωκα αὐτοῖς προστάγματα οὐ καλὰ καὶ δικαιώματα ἐν οἷς οὐ ζήσονται ἐν αὐτοῖς. καὶ μιανῶ αὐτοὺς ἐν τοῖς δόμασιν αὐτῶν ἐν τῷ διαπορεύεσθαί με πᾶν διανοῖγον μήτραν ὅπως ἀφανίσω αὐτούς. (Ez 20,25-26; LXX)

Übersetzung: »Und ich gab ihnen Anordnungen [die] nicht tauglich [waren] und Rechtssatzungen, durch sie sie nicht leben werden in ihnen. Und ich werde sie besudeln durch ihre Gaben bei meinem alles Durchschreiten, was den Mutterleib öffnet, damit ich sie zerstöre. (MÜ).

Vers 25 ist sehr wörtlich übersetzt. In Vers 26 sticht das Futur heraus: ich werde sie besudeln, das auf einem Missverständnis des Imperfekt Konsekutivum beruhen könnte. »Alles, was den Mutterleib öffnet« ist wie im Hebräischen Text ein direktes Zitat aus Ex 13,12, wo verlangt wird, die menschliche Erstgeburt auszulösen, aber nicht, sie zu verbrennen. Die seltsame Formulierung »bei/in meinem Durchschreiten« (Inf. Präs. von διαπορεύω) ist in der griechischen Übersetzung auf den HERRN bezogen6. Die exakt gleiche Form des Verbs wird von der LXX in Jes 11,15 verwendet, wo Israel auf Sandalen durch das Meer Ägyptens zieht. Also: nicht Israel lässt in der LXX-Fassung von Ez 20,26 etwas hindurchgehen, sondern der HERR. John W. Olley hat deshalb den ganzen Abschnitt als eine Umkehrung des Pessach-Ereignisses gedeutet7.

Insgesamt sehe ich aber keinen Grund, wie Hans-Friedemann Richter eine fehlerhafte Vorlage für die LXX anzunehmen8. Über die Wiedergabe von בְּהַעֲבִיר mit ἐν τῷ διαπορεύεσθαί με wird noch zu reden sein. Wichtig ist, dass auch die LXX den Ausdruck „Feuer“ in diesem Kontext nicht verwendet. Das fehlende: damit sie wissen sollen, dass ich der HERR bin, hat Origenes mit einem Asteriskos ※ versehen, hinzugefügt: ινα γνωσιν οτι εγω κυριος.

Syrische Didaskalie

In der syrischen Didaskalie wird das Wort aus Ez 20,25 gebraucht, um die Gesetze und Anordnungen, die nach der Zerstörung der zwei von Gott geschriebenen Tafeln durch Mose in (Ex 32,15-19) von Gott gegeben werden, als Strafe Gottes für die Sünde des goldenen Kalbes zu interpretieren. Diese Gesetzgebung nach dem Abfall des Volkes in Ex 32, die als δευτέρωσις – zweites Gesetz – bezeichnet wird, ist demnach nicht lebensspendend, sondern todbringend.9 So heißt es im 26. Kapitel der Syrischen Didaskalie: 10

Dem Ezechiel nämlich setzt er auseinander und tut ihm kund: etwas anderes ist das Gesetz des Lebens, und etwas anderes das zweite Gesetz des Todes, denn also hat er gesagt: „Ich habe sie aus dem Lande Ägypten geführt und sie in die Wüste gebracht und ihnen meine Gebote gegeben und sie meine Satzungen wissen lassen, so daß, wenn jemand sie erfüllt, er unter ihnen gerettet sein soll.“ [Ez 20,9-11] Und darnach, indem er sie tadelt, daß sie gesündigt und nicht das Gesetz des Lebens gehalten haben, wiederholt er ihnen und sagt also: „Ich habe ihnen Gebote gegeben, die nicht gut sind, und Satzungen, durch die sie nicht errettet werden“. Satzungen aber, die nicht erretten, gehören zu den Fesseln; darum ist auch das Wort, welches vordem in der Wiederholung des Gesetzes ausgesprochen worden ist, für die Verblendung des blinden Volkes (bestimmt). (Die Syrische Didaskalia, Übersetzt und erklärt von Hans Achelis und Johannes Flemming; Leipzig 1904, S. 134-135)

So unhaltbar diese Auslegung auch ist (vgl. etwa Lev 18,4-5), sie hat einen Deutungspfad für diese Textstelle eröffnet, der bis heute begangen wird: Teile der Tora werden unter Berufung auf Ez 20,25 f. kritisiert oder für obsolet erklärt. So beruft sich Jan Assmann zustimmend auf Othmar Keel, wenn er von »überständigen« und »unguten Gesetzen« im Buch Exodus spricht, die der Prophet Ezechiel verurteilt habe.11 Immerhin muss Assmann aber zugeben, dass das angeblich in Ez 20,26 erwähnte Gebot, sein Kind im Feuer zu verbrennen, »rätselhaft« sei, da es im Widerspruch zu Ex 34,20 stehe.

Targum Pseudo-Jonathan

Eine zeitliche Einordnung dieses Targums ist praktisch unmöglich12: es geht in seiner heutigen Gestalt sicher auf die islamische Zeit zurück, enthält aber auch weitaus älteres Material. Ich gebe den Text in der Fassung einer jemenitischen Handschrift aus dem 16. Jh. wieder, die die Colombia University veröffentlicht hat (man beachte die supralineare Vokalisierung).

Targum Pseudo-Jonathan zu Ez 20:25-26

Hier meine Wiedergabe des Textes, den jeweils vorangestellten hebräischen Bibelvers habe ich weggelassen, da ich ihn bereits oben wiedergegeben habe.


ואף אנא מדּמרדו במימרי ולא אבו לקבלא לנביי ארחיקתינון ומסרתנון ביד יצריהון טפשא אזלו ועבדו גזירן דלא תקנן ונימוסין דלא יתקיימון בהון

וסאיבית יתהון במתנתהון באעברא כל פתח ולדא בדיל דאצדינון בדיל דידעון די אנא ייי

Meine Übersetzung lautet: »Und außerdem ich, dadurch dass sie gegen mein Wort rebellierten und sie meinen Propheten nicht entsprechen wollten, habe ich sie entfernt und sie überliefert in die Hand ihrer sturen Begierde. Sie gingen und machten Dekrete, die nicht richtig erstellt waren und Gesetze, durch die sie nicht bewahrt werden konnten. Und ich werde sie unrein machen durch ihre Gaben, durch Übergeben alle Erstgeburt des Kindes, so dass ich sie niedergeschlagen mache, damit sie wissen sollen, dass ich der HERR bin.«

Das Targum interpretiert den hebräischen Text von Vers 25 sehr deutlich um, was in Vers 26 nicht geschieht. Schuld an dem Eingreifen Gottes hat das Gottesvolk durch seinen Ungehorsam selber. Das »ich habe ihnen gegeben« wird als Konsequenz, aber nicht als Ursache des Handelns Israel gedeutet. Die falschen Dekrete und nicht lebensfähigen Gesetze13 sind Menschenwerk und nur insofern auf Gott zurückzuführen, als er die Menschen ihren Begierden ausgeliefert hat. Diese Deutung ist natürlich ein deutlicher Schritt weg vom Literalsinn.

Raschi

Dieser Ausschnitt aus der zweiten Rabbiner Bibel von 1524 bietet nicht nur den masoretischen Text mit der soeben besprochenen Fassung des Targum an seiner Seite, er hat auch links den Kommentar von Raschi (רשי) und rechts den von David Kimchi (רדק).

Ez 20:25-26 in der zweiten Rabbinerbibel.

Hier Raschis Deutung der beiden Ezechiel-Verse, die sich ausdrücklich auf das Targum beruft:


נתתי להם חוקים לא טובים. מסרתם ביד יצרם להכשל בעוונם וכן ת“י ומסרתינון ביד יצרהון טפשא ואזלו ועבדו גזירן דלא תקנן ונמוסין דלא יתקיימו בהון

ואטמא אותם במתנותם. אותם מתנות שחקקתי להם לקדש לי כל בכור מסרתים ביד יצרם להעבירם לאותם בכורות למולך הרי חוקים לא טובים

למען אשמם. אשימם ואחריב אותם, אשמם לשון שממה והמפרשו לשון אשמה טועה הוא שהאל“ף אינה משרשי התיבה

אשר ידעו. כשאביא עליהם הרעה

Hier meine Übersetzung:

»Ich gab ihnen Satzungen, die nicht gut sind. [Das bedeutet:] Ich überlieferte sie in die Hand ihrer Begierde, um [sie] stolpern zu lassen, und so [deutet es auch das] Targum Jonathan: [In Aramäisch]: „Und ich habe sie überliefert in die Hand ihrer sturen Begierde. Und sie gingen und machten Dekrete, die nicht richtig erstellt waren und Gesetze, durch die sie nicht bewahrt werden konnten.“ [Fortsetzung in Hebräisch:] Und ich werde sie durch ihre Gaben unrein machen: Ihre Gaben: [das bedeutet,] dass ich für sie ein Gesetz erlassen habe, mir jeden Erstgeborenen zu heiligen. Ich überlieferte sie in die Hand ihrer Begierde, sie überlieferten sie, die Erstgeborenen, dem Molech, daher: Satzungen, die nicht gut sind. Damit ich sie verzweifeln lasse: [das bedeutet:] ich lassen sie verzweifeln (aschimem) und ich werde sie zerstören. Aschimem ist ein Ausdruck für Verzweiflung (schemamah), und wer den Ausdruck als Schuld (aschmah) auslegt, der macht einen Fehler, denn das Aleph gehört nicht zur Wurzel des Wortes. Damit sie wissen sollen: [das bedeutet:] wenn ich das Böse über sie kommen lasse.«

Raschi deutet V. 26 so, dass Israel, seinen Begierden folgend, das Gebot aus Ex 13,12 pervertierte, in dem es seine Erstgeborenen nicht dem HERRN, sondern dem Molech weihte. Entscheidend für diese Deutung dürfte Vers 31 sein, wo es heißt: בְּֽהַעֲבִיר בְּנֵיכֶם בָּאֵשׁ – »beim Vorbeigehenlassen eure Kinder am Feuer«. Nachdem dieser Ausdruck auch in Lev 18,21 verwendet wird:
וּמִֽזַּרְעֲךָ לֹא־ תִתֵּן לְהַעֲבִיר לַמֹּלֶךְ – »und von deinen Nachkommen sollst du keinen hingeben, um ihn für den Molech hinübergehen zu lassen«14 konnte Raschi hier die Verbindung zum Molech herstellen.

Diese Deutung Raschis wird im aktuellen Ezechiel-Kommentar von Moshe Greenberg ebenfalls vertreten:

Da Israel beständig die guten, lebensspendenden Gesetze Gottes verwarf (…) bestätigte Gott nur das Volk in seiner Wahl von Gesetzen, die Gott zuwider sind (vgl. 18f.). Diese Wahl brachte sie unweigerlich dazu, die tödlichen Gesetze der Heiden anzunehmen. (Moshe Greenberg, HThKAT, Ezechiel 1-20; Herder Verlag Freiburg 2001, S. 431 f.; der usprünglich auf Englisch verfasste Kommentar Greenbergs wurde von Michael Konkel ins Deutsche übersetzt.)

Abraham Geiger

In seiner »Urschrift« geht Abraham Geiger noch einen Schritt weiter. Er geht von einer alten, in Israel geübten Praxis des Kinderverbrennens aus, die in Ez 20 noch hervorschimmere, aber in der späteren Auslegung und Übersetzung verschleiert worden sei. Im Gang seiner Argumentation führt Geiger (Link zum Foto) dazu aus:

Abraham Geiger

Bedenken wir nun die entschiedene Absichtlichkeit, mit der die alte Zeit die Herrschaft des Molochdienstes in Israel und die Scheusslichkeit dieses Dienstes auf ein geringeres Mass zu reduciren ausging, so dürfen wir auch noch einen Schritt weiter gehen, und wir müssen es, wenn wir sorgsam noch andere Umstände erwägen. An mehren Orten der Könige, des Jeremias, Ezechiel und des jüngeren Jesaias wird uns gesagt, dass der Götzendienst des Baal und Moloch darin bestanden, die Kinder zu schlachten, sie im Feuer zu verbrennen (שרף באש), und besonders wird das Thal Hinnom — das desshalb später Bezeichnung der Hölle wurde — als die Stätte dieses schmachvollen Dienstes genannt. Von einem „Durchführen“ der Kinder durchs Feuer erfahren wir sonst Nichts und liegt es nur in unserm העביר, und dieses steht, wie wir gesehn, zuweilen gar ohne den unentbehrlichen Beisatz באש. Was ist es nun mit diesem „Durchführen“? Was uns die alten Kommentatoren darüber berichten, giebt sich auf den ersten Blick als blos aus den Bibelstellen errathen kund. Wie nun, wenn dieses ganze „Durchführen“ blos eine alte Correctur wäre für das Verbrennen? Und dass es eine solche ist, bezeugt unser Text 2 Chr. 28,3, die Parallelstelle zu 2 Kön. 16,3; wir lesen hier וַיַּבְעֵר את בניו באשׁ und wir ersehn daraus, dass das הֶעֱבִיר überall blos Correctur ist für הִבְעִיר, von dem wir nun begreifen, wie es auch zuweilen ohne באש stehn kann, das zunächst im Pentateuch, dem gelesensten Buche umgewandelt wurde, dann auch in den Propheten, obgleich dort sonst das Schlachten und Verbrennen der Kinder unter andern nicht geänderten Ausdrücken vorkommt, und nur in der Chronik als einem spätern weniggelesenen Buche einmal stehn blieb, während jedoch die alten Uebersetzer auch da die Correctur haben. (Abraham Geiger, Urschrift und Übersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums, Breslau 1857, S. 304 f.)

Diese Auslegung Geigers fand erstaunlicherweise die Anerkennung seiner christlichen Kollegen, die ihn sonst nicht einmal in ihren Zeitschriften publizieren ließen15. So verweist der Eintrag zum Hifil von עבר in Gesenius Hebräischem und Aramäischen Handwörterbuch ausdrücklich auf diesen Abschnitt in Geigers Urschrift16. Die Übersetzung von העביר in Ez 20,26 mit »durchs Feuer gehen lassen«, obwohl das hebräische Wort für Feuer nicht vorkommt, ist in wichtigen deutschen Übersetzungen prominent vertreten, etwa in Luther 2017, Elberfelder, Schlachter 2000, Zürcher. Die revidierte Einheitsübersetzung bildet eine rühmliche Ausnahme. Auch Assmann folgt dieser Tradition, wenn er übersetzt:

Und ich machte sie durch ihre Gaben unrein, indem sie alle Erstgeburt des Mutterleibes durch [das Feuer] gehen ließen: damit ich ihnen Entsetzen einflößte, damit sie erkannten, dass ich JHWH bin. (Assmann S. 275, a.a.o.)

Alles in allem bleibt in dieser Auslegungstradition der Befund: Israel habe einmal nach dem historischen Zeugnis des Ezechiel auf Gottes Befehl hin Kinder verbrannt.

Benno Jacob

Gegen diese Deutung erhebt Benno Jacob in seinem Exodus-Kommentar bei der Auslegung von Ex 13,12 wütenden Protest, wobei er auch aus dem oben von mir angeführten Abschnitt aus Geigers Urschrift zitiert (hier von mir weggelassen):

Im vorigen Jahrhundert ist allen Ernstes behauptet worden, daß an dieser Stelle (und 22,28) ursprünglich das Opfer des erstgeborenen Kindes, und zwar durch Verbrennung gefordert war. (…) Ein gediegener Beweis soll Ez 20,25f. sein, wo sogar auf Ex 13,12 (aber noch nicht die spätere Aufhebung v. b.) Bezug genommen werde: »und auch ich habe ihnen Satzungen gegeben, die nicht gut sind und Rechte, durch die man nicht lebt, und verunreinigte sie durch ihre Gaben, durch העביר כל פטר רחם, um sie erstarren zu machen, damit sie erkennen, daß Ich J-h-w-h bin.« Nach Ezechiel hat also Gott selbst Israel solche abscheuliche Gesetze gegeben – und wozu? Damit sie vor sich selber Grauen empfinden! Und solchen sophistischen Unsinn sollen wir einem israelitischen Propheten zutrauen, dem Ezechiel, der, wie so oft in diesem ganzen Kapitel dagegen eifert, daß sie Gottes Gebote nicht halten, der v. 10 Gott sagen läßt: »und ich gab ihnen meine Satzungen und lehrte sie meine Rechte, die der Mensch tue, auf daß er lebe« – ein offenbares Zitat aus Lev 18,4. (Benno Jacobs: Das Buch Exodus, Calwer Verlag, Stuttgart 1997, S. 384 f.)

Jacob schlägt dann eine Deutung vor, die für mich die einzig Überzeugende zu sein scheint. Bevor wir uns ihr zuwenden, möchte ich noch einen kurzen Blick auf den Kontext der beiden Verse im Kapitel 20 werfen.

Der Kontext in Ezechiel 20

Vor unserer Aussage wird in Kapitel 20 dreimal gesagt, dass der HERR die Satzungen gab, um zum Leben zu führen:

Vers 11:

וָאֶתֵּן לָהֶם אֶת־חֻקּוֹתַי וְאֶת־מִשְׁפָּטַי הוֹדַעְתִּי אוֹתָם אֲשֶׁר יַעֲשֶׂה אוֹתָם הָאָדָם וָחַי בָּהֶֽם׃

Vers 13:


וַיַּמְרוּ־בִי בֵֽית־יִשְׂרָאֵל בַּמִּדְבָּר בְּחֻקּוֹתַי לֹא־הָלָכוּ וְאֶת־מִשְׁפָּטַי מָאָסוּ אֲשֶׁר יַעֲשֶׂה אֹתָם הָֽאָדָם וָחַי בָּהֶם וְאֶת־שַׁבְּתֹתַי חִלְּלוּ מְאֹד וָאֹמַר לִשְׁפֹּךְ חֲמָתִי עֲלֵיהֶם בַּמִּדְבָּר לְכַלּוֹתָֽם׃

Vers 21:

וַיַּמְרוּ־בִי הַבָּנִים בְּחֻקּוֹתַי לֹֽא־הָלָכוּ וְאֶת־מִשְׁפָּטַי לֹא־שָׁמְרוּ לַעֲשׂוֹת אוֹתָם אֲשֶׁר יַעֲשֶׂה אוֹתָם הָֽאָדָם וָחַי בָּהֶם אֶת־שַׁבְּתוֹתַי חִלֵּלוּ וָאֹמַר לִשְׁפֹּךְ חֲמָתִי עֲלֵיהֶם לְכַלּוֹת אַפִּי בָּם בַּמִּדְבָּֽר׃

Hinter diesen Ausführungen steht ein direktes Zitat aus Lev 18,4-5:

אֶת־מִשְׁפָּטַי תַּעֲשׂוּ וְאֶת־חֻקֹּתַי תִּשְׁמְרוּ לָלֶכֶת בָּהֶם אֲנִי יְהוָה אֱלֹהֵיכֶֽם׃ וּשְׁמַרְתֶּם אֶת־חֻקֹּתַי וְאֶת־מִשְׁפָּטַי אֲשֶׁר יַעֲשֶׂה אֹתָם הָאָדָם וָחַי בָּהֶם אֲנִי יְהוָֽה׃

In Vers 18 werden die Satzungen des HERRN mit den Satzungen der Väter kontrastiert:

וָאֹמַר אֶל־בְּנֵיהֶם בַּמִּדְבָּר בְּחוּקֵּי אֲבֽוֹתֵיכֶם אַל־תֵּלֵכוּ וְאֶת־מִשְׁפְּטֵיהֶם אַל־תִּשְׁמֹרוּ וּבְגִלּוּלֵיהֶם אַל־תִּטַּמָּֽאוּ׃

Diese Satzungen der Väter sind mit den Satzungen in Vers 25 verwandt, was am unterschiedlichen Plural in den Versen 11,13,21 und 18 + 25 deutlich wird. Dieser jeweils unterschiedliche Plural ist ein wichtiges Textsignal. 17 Weiters schließen sich in Vers 30 bis 31 rhetorische Fragen an, einmal mit He-Interregogativum (הַבְּדֶרֶךְ אֲבֽוֹתֵיכֶם אַתֶּם נִטְמְאִים), einmal ohne (וַאֲנִי אִדָּרֵשׁ לָכֶם בֵּית יִשְׂרָאֵל)

Lösungsvorschlag

Nach diesem Befund kann ich Benno Jakob das Wort überlassen:

Wie ist aber jenes Wort zu erklären? 1. es ist eine affektvolle unwillige Frage, eingeleitet durch ו׳ wie z.B. Nu 12,14 ואביה, auch im nachbiblischen Hebräisch nicht selten 2. גם dient zur Unterstreichung (s.z. 10,28). Also: Wie? habe ich ihnen denn Satzungen gegeben, die nicht gut sind, und Rechte, durch die man nicht lebt?! Denselben Ton hat auch die Fortsetzung v. 26: und habe Ich sie durch das Gebot von der Erstgeburt verunreinigen, d.h. zum Götzendienst bringen, veröden und dadurch zu meiner Erkenntnis bringen wollen?!

Dass die Frageform ohne einleitendes He-Interrogativum18 nicht selten ist, zeigt ein Blick in die Grammatik, hier in Gesenius/Kautzsch § 150 a. (Wilhelm Gesenius‘ Hebräische Grammatik, völlig umgearbeitet von E. Kautzsch, 28. Auflage, Leipzig 1909, S. 595)

Gesenius/Kautzsch § 150 a
Gesenius/Kautzsch § 150 a

Vom Kontext her scheint mir diese Deutung die einzig mögliche zu sein. Die vorgeschlagenen anderen Auslegungen machen entweder aus dem biblischen Gott einen Götzen (wie bei Robert Brunner), oder arbeiten mit einer historisch fragwürdigen Vorstellung von Kinderopfern im alten Israel (wie Geiger und Nachfolger). Koehler & Baumgartner geben in ihrem Lexikon die Meinung von Weinfeld wieder, dass es sich bei העביר eher um eine Weihung als um ein Opfer durch Verbrennen gehandelt habe19. Thomas Hieke referiert in seinem Levitikus-Kommentar die Ansicht, es sei zweifelhaft, dass es bei der »Molech-Praxis« überhaupt um einen kultischen Vorgang, geschweige denn ein Kinderopfer ging20. Sein Zwischenfazit nach ausführlicher Diskussion der Quellenlage:

Es muss weiterhin offen bleiben, ob »Molech« ein Opferbegriff ist oder eine Gottheit als Empfänger bezeichnet; was nicht mehr tragbar ist, ist eine selbstverständliche Annahme von Kinderopfern für »Molech/Moloch«, womöglich noch in großem Stil. (Hieke, S. 682)

In unseren Versen, Ez 20,25-26 tauchen ja weder der Ausdruck »Feuer« noch »Molech« auf21, und die Paarung des männlichen Plurals für Satzungen mit dem von Vers 18 macht deutlich, dass der Prophet bei diesem Vorgang – worin auch immer er bestand – Satzungen der Väter, aber nicht ein Gebot des HERRN adressiert.

Mein Fazit lautet: die Übersetzung von Ez 20,25-26 als affirmative Selbstaussage Gottes passt weder zum Kontext des Ezechiel, noch ergibt sie eine wirklich sinnvolle Aussage, was durch ihre absurde Singularität untermauert wird. Die von Benno Jacobs vorgeschlagene Übersetzung scheint mir die einzig sinnvolle zu sein:

Wie? habe ich ihnen denn Satzungen gegeben, die nicht gut sind, und Rechte, durch die man nicht lebt?! Und habe Ich sie durch das Gebot von der Erstgeburt verunreinigen, veröden und dadurch zu meiner Erkenntnis bringen wollen?!

Man wird mir kritisch einwenden, dass diese Frageform dann schon sehr früh nicht mehr verstanden wurde – die Übersetzung von בְּהַעֲבִיר mit ἐν τῷ διαπορεύεσθαί με in der LXX belegt das. Doch gerade diese Fassung der LXX macht deutlich, dass das heute gängige Verständnis nicht dem zur Zeit des zweiten Tempels entspricht. Angesichts vieler neuzeitlicher Auslegungen und Übersetzungen frage ich mich, ob sie nicht mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit auf dem hermeneutischen Niveau der Didaskalie verblieben sind, derzufolge das Alte Testament weithin eine Sammlung überholter und lebensfeindlicher Gesetze darstelle.

Fußnoten

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  1. At this point we come upon what is perhaps theologically the most problematic statement in the book: „I gave them statutes that were not good and ordinances by which they could not have life“ (V. 25, RSV).in: Joseph Blenkinsopp: Ezekiel Intrepretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, John Knox Press 1990, S. 89)
  2. The enigmatic character of these verses has kept exegetes busy from of old. (Jurrien Mol: Collective and Individual Responsibility A Description of Corporate Personality in Ezekiel 18 and 20; Brill Leiden/Boston 2009; S. 234)
  3. The bizarre motif of the giving of “statutes that were not good“ in 20:25-26. (Paul M. Joyce: Ezekiel: A Commentary; The library of Hebrew Bible/Old Testament studies 482; T & T Clark International; New York 2007; S. 89)
  4. A shocking paradox … this notorious crux (S. 151, ebenda)
  5. Als Gründe werden u.a. genannt: Anspielungen auf die Situation in der Makkabäerzeit und dass das griechische Vorwort zu Ben Sira diese Übersetzung bereits voraussetzt: „Thus for Ezekiel a date around 150 BCE in Egypt seems most likely.“ (John W. Olley, A Commentary based on Iezekiēl in Codex Vaticanus; Brill, Leiden/Boston 2009, S. 15)
  6. Hier lohnt ein Blick auf andere Übersetzungen. A New English Transalation of the Septuagint, hgg. von Albert Pietersma u. Benjamin G. Wright hat „And I will defile them with their gifts when I am passing through everything that opened up a womb so that I might annihilate them.“ Die LXX Deutsch liest: „Und ich werde sie durch ihre Gaben beflecken, in dem ich durch alles hindurchgehe, was den Mutterschoß öffnet, um sie zu vernichten.“
  7. „The first obvious difference is a shift to the future, μιανῶ ‘I will defile’, and so LXX can be read as referring generally to Lord’s actions concerning ‘gifts’ the people are presently bringing, shown below in v. 31 to be given to other gods. Even as they bring them Lord will ‘defile’ the people in the coming judgment, which in description parallels that on Egypt at the time of the passover night. πᾶς διανοῖγος μήτραν (‘all that opens the womb’) is used in Ex 13:12–15, laws linked with the passover event when Lord ‘passed through’ the land. Thus in a striking reversal, what Lord had done to the Egyptians in delivering the Israelites now describes what is going to happen to them. A similar portrayal of reversal using Passover imagery was seen in 9:1–9.“ (John W. Olley: Ezekiel. A Commentary based on Iezekiēl in Codex Vaticanus; Brill Leiden/Boston 2009; S. 367)
  8. In ZAW 119, 207 S. 617. Ich fürchte auch, dass seine dort gebotene Übersetzung des Ausdrucks ἐν τοῖς δόμασιν, auf einer Verwechslung von δόμα – Gabe mit δῶμα – Haus beruht (S. 616).
  9. Zu der ganzen Vorstellung vergleiche Marcel Simon, Verus Israel. A Study of the Relations between Christian and Jews in the Roman Empire AD 135-425; The Littman Library of Jewish Civilization, Portland, Oregon 1986, S. 87 ff. Hier wird auch ausführlich auf die Verwendung des Begriffs der Deuterosis für die Mischna in der christlichen Literatur eingegangen.
  10. Das Werk wurde als „Lehre der Apostel“ ursprünglich Griechisch geschrieben und dürfte aus dem 3. Jh. stammen. Vollständig ist es nur in einer syrischen Übersetzung erhalten geblieben. Der griechische Text kann aus den Apostolischen Konstitutionen rekonstruiert werden, deren erste sechs Bücher in weiten Strecken auf der Didaskalia beruhen. Vgl. James Kugel: Traditions of the Bible, Harvard University Press 1998, S. 913.
  11. Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015, S. 117 und 274.
  12. „Assigning any date to this work is likely to be misleading.“ James Kugel, S. 944 a.a.o.
  13. Im Aramäischen steht hier ein griechisches Lehnwort: ונימוסין bedeutet »und Gebräuche/und Gesetze« und kommt von νόμος – vgl. Jastrow S. 905
  14. Übersetzung: Thomas Hieke, in: HThKAT, Levitikus, Zweiter Teilband, Herder Verlag Freiburg 2014, S. 648
  15. Vgl. Susannah Heschel: Abraham Geiger and the Jewish Jesus; The University of Chicago Press, Chicago 1998, insbesondere Kapitel 7: Fixing the Theological Gaze: The Reception of Geiger’s Work, S. 186 ff.
  16. Wilhelm Gesenius‘ Hebräisches und Aramäisches Wörterbuch Handwörterbuch über das Alte Testament, Unveränderter Neudruck der 1915 erschienen 17. Auflage, Springer Verlag Berlin 1962, S. 559
  17. „The similarity of the laws in vv.18 and 25 may be deduced from the use of חֻקִּים instead of חֻקּוֹת.“ (Jurrien Mol in: Collective and Individual Responsibility. A Description of Corporate Personality in Ezekiel 18 and 20. Brill, Leiden/Boston 2009). Der Autor spricht ebenda Fn. 136 von „the significance of the alternating use by Ezekiel of חֻקִּים and חֻקּוֹת.“
  18. So auch Hans-Friedemann Richter: »Bei dem MT bin ich der Auffassung, dass es sich in Ez 20,24–25 um rhetorische Fragen ohne He-interrogativum handelt. Es wäre demzufolge zu lesen: MT Ez 20,25: Habe ich etwa ihnen (den Israeliten) Gesetze gegeben, die nicht gut waren, und Anweisungen, die nicht am Leben erhalten sollten? V. 26 Und ich wollte sie verunreinigen durch ihre Opfer beim Verbrennen aller Erstgeburt, um ihnen Entsetzen einzujagen? Darum – sie sollen erkennen, dass ich JHWH bin.« S. 617, a.a.o.
  19. Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament von Ludwig Koehler und Walter Baumgartner, Brill Leiden/Boston 2004, Band I, S. 734; die These von Weinfeld wird in Hieke, II, S. 681 referiert.
  20. Vgl. Hieke II S. 643 f. und die breite Diskussion S. 680 ff.
  21. Erst in Vers 31 ist vom Feuer die Rede, ebenso von den Götzen (לְכָל־גִּלּֽוּלֵיכֶם), aber der Namen Molech kommt nicht vor.

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