Die Zeichen der Zeit

Zu den bekanntesten theologischen Ausdrucksformen gehört sicherlich die Rede von den »Zeichen der Zeit«. Theologisch Gebildete wissen, dass der Ausdruck eine prominente Rolle in einem der grundlegenden Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils spielt (Gaudium et Spes). Aber ist er auch biblisch?

Ein Blick in die Textgeschichte

In der revidierten Einheitsübersetzung liest sich der Text ohne jegliche Anmerkung heute so:

Da kamen die Pharisäer und Sadduzäer zu Jesus, um ihn zu versuchen. Sie forderten von ihm, ihnen ein Zeichen vom Himmel zu zeigen. Er antwortete ihnen: Wenn es Abend wird, sagt ihr, es kommt schönes Wetter; denn der Himmel ist feuerrot. Und am Morgen sagt ihr: Heute kommt schlechtes Wetter, denn der Himmel ist feuerrot und trübt sich ein. Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, die Zeichen der Zeit aber könnt ihr nicht beurteilen. (Mt 16,1-3; REÜ)

Werfen wir einmal einen Blick in den Matthäuskommentar des Hieronymus (geschrieben 398) 1. Ich habe hier den entsprechenden Ausschnitt aus der Patrologia Latina:

MPG XXVI, 112
MPG XXVI, 112

Unter den (oben in deutscher Übersetzung gebotenen) Text setzt Hieronymus als Kommentar:
Hoc in plerisque codicibus non habetur.
(Eusebius Hieronymus, Com. in Ev. Mat.; MPL XXVI, 112)
Zu deutsch: »Das ist in den meisten Handschriften nicht enthalten«.

Nestle-Aland XXVIII

Nestle-Aland setzt den Abschnitt Mt 16,2b-3 in eckige Klammern und gibt im Apparat an:
א B Γ f ¹³ 579 sys.c sa mae bopt; Or Hiermss ¦ txt C D K L N W Δ Θ f ¹ 33. 365. 700. 892. 1241. 1424.  latt syp.h bopt; Eus
Ich zähle hier nur die wichtigsten Zeugen auf, die den Text nicht haben:

  • Codex Sinaiticus
  • Codex Vaticanus
  • Codex Monacensis, Macedoniensis, Tischendorfianus
  • Minuskelfamilie f ¹³
  • Origenes und Hieronymus (viele Handschriften)

Zeugen, die den Text haben (wieder nur eine Auswahl):

  • Codex Ephraemi Syri rescriptus
  • Codex Bezae Cantabrigiensis
  • Codex Angelicus, Mosquensis, Sangallensis, Coredethianus
  • diversen Minuskel-Handschriften
  • der Mehrheitstext
  • Eusebius

Auswertung

Das Schwergewicht liegt dank Sinaiticus und Vaticanus eindeutig auf der Seite der Handschriften, die den Text nicht haben. 2 Dieser Meinung sind auch die Alands in ihrem Lehrbuch:

Das Wort Matth 16,2b-3 stellt genauso wie die Perikope von der Ehebrecherin Joh 7,53-8,11 uraltes Gut dar. Daß beide Texte nicht zum ursprünglichen Text der Evangelien gehören, daran kann angesichts der Bezeugung für das Fehlen in der griechischen Überlieferung, den Übersetzungen und bei den Kirchenvätern kaum Zweifel sein. 3

Der Verfasser des Kommentars zum MT, Ulrich Luz, beantwortet die Frage nach der Ursprünglichkeit des Textes so:

Die Antwort wird (…) eher negativ ausfallen. 4

Wieland Wilker kommt in seinem textkritischen Online-Kommentar zu dem Ergebnis: Rating: – (indecisive).
Erstaunlich ist das Ergebnis, das Bruce Metzker anbietet: er spricht von einer »Balance» zwischen den Zeugen und erklärt das Fehlen in den beiden Hauptzeugen damit, in Ägypten sei das geschilderte Wetterphänomen unbekannt (!). 5

Meine Meinung

Meiner Meinung nach kann nicht wirklich daran gezweifelt werden, dass die Passage mit den Zeichen der Zeit sekundär ist. Dass sie eine sehr alte Hinzufügung ist, daran gibt es ebenfalls nichts zu rütteln.

Wie reagieren gängige Bibelausgaben?

  • die alte Einheitsübersetzung lässt den Text als sekundär aus (Fußnote), interpoliert die Zeichen der Zeit aber in Lk 12,56 (ebenfalls mit Fußnote).
  • die revidierte Einheitsübersetzung bringt den Text ohne jegliche Anmerkung
  • die Elberfelder bietet den Text ohne jegliche Anmerkungen
  • Luther 2017 hat den Text und weist auf das textkritische Problem in FN hin
  • die BigS bietet den Text ohne Anmerkung
  • die Zürcher lässt die Stelle aus, bietet sie als sekundär in der FN

Wirkungsgeschichte

Spannend finde ich, wie sehr der deutsche Sprachraum auf den Zeichen der Zeit beharrt. Sie fehlen in der lateinischen Version der Enzyklika von Johannes XXIII Pacem in terris. Doch die deutsche Version gibt den Satz Aetas haec nostra tribus huiusmodi tamquam notis distinguitur als Zeichen der Zeit. Unsere Gegenwart ist durch drei Merkmale gekennzeichnet wieder. Welche drei Worte kommen im lateinischen Original nicht vor?

Fußnoten

1

Nach Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings: Lexikon der antiken christlichen Literatur², S. 287

2

Zeugen werden nicht gezählt, sondern gewogen.

3

Kurt und Barbara Aland: Der Text des NT² S. 311

4

Ulrich Luz, EKK I/2, S. 443

5

vgl. Bruce Metzker: A textual Commentary on the Greek New Testament², S. 33

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