Notizen zur Entwicklung des römisch-katholischen Eheverständnisses III

Gratian brach als erster mit dem Rechtsprinzip, dass Sklaven ohne Einwilligung oder gar gegen den Willen ihrer Besitzer nicht heiraten können. Wie aber sah es mit der freien Gattenwahl der Frauen aus? Auch hier lohnt sich der Blick in die von ihm begonnene Rechtssammlung.
Genauso wie in Fall XXIX konstruiert Gratian zunächst einen komplexen Beispielsfall, von dem her sich mehrere Fragen ergeben; hier interessiert uns nur die zweite: An filia sit tradenda inuita alicui? – Ob eine Tochter gegen ihren Willen irgendjemand anvertraut werden könne? Ich lasse den Magister ausführlicher zu Wort kommen.

Illustration aus der Druckauflage des Decretum Gratiani von 1514 zur Causa XXXI
Illustration aus der Druckauflage des Decretum Gratiani von 1514 zur Causa XXXI

Causa XXXI Quastio II

Quod autem aliqua non sit cogenda nubere alicui, Ambrosius testatur super epistolam primam ad Corinthios. [Nubat, cui vult, tantum in Domino.] id est, quem sibi aptum putauerit, illi, nubat: quia inutiæ nuptiæ solent malos prouentus habere. [Tantum autem in Domino.] Hoc est, ut sine suspicione turpitudinis nubat, & viro suæ religionis nubat. (C. XXXI, Q. II)

»Dass aber eine [Frau] nicht gezwungen werden darf, jemand zu heiraten, bezeugt Ambrosius auf der Grundlage des ersten Briefs an die Korinher: ‚Sie soll heiraten, wen sie will, solange es im Herrn [geschieht] (1 Kor 7,39). Das bedeutet: wen sie für sich passend hält, den soll sie heiraten. Denn gegen den Willen [eines Partners] geschlossene Ehen haben gewöhnlich ein übles Ende. Solange es im Herrn geschieht. Das heißt, dass sie ohne Verdacht von schandhafter Lebensweise heiraten, und sich mit einem Mann ihres Glaubens vermählen kann‘.« (MÜ)

Die Berufung auf 1 Kor 7,39 ist uns bereits begegnet. Gratian verwendete sie schon in Causa XXIX, um zu argumentieren, warum der Willen der Sklaven – und nicht der ihrer Besitzer – für die Eheschließung entscheidend ist. Das von Gratian verwendete Ambrosius Zitat wird heute auf den Ambrosiaster zurückgeführt, einen unbekannten römischen Autor aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. 1 Doch Gratian hat noch weitere Autoritäten zu bieten.

Causa XXXI Quastio II Cap. 1

Iuramento patris non cogitur puella nubere, cui nunquam assensum adhibuit. – Durch den Eid eines Vaters, dem sie niemals ihre Zustimmung gegeben hat, kann eine Tochter nicht gezwungen werden, zu heiraten.

Item iudicium Vrbani Papæ. – So lautet die Entscheidung von Papst Urban. 2

Si verum esse constiterit, quod nobis legati Iordanis Principis retulerunt, scilicet, quod ipse coactus, & dolens filiam suam infantulam nolentem, flentem, & pro viribus renitentem, non assentientibus, sed valde dolentibus matre, & parentela, Rainaldo Rodeli filio desponsauerit, quoniam Canonum, & legum auctoritas talia sponsalia (vt infra ostenditur) non approbat, ne ignorantibus leges, & Canones, nimis durum, quod dicimus, videatur: ita sententiam temperamus, vt si Princeps cum filiæ matris, & parentelæ assensu, id quod cœptum est, perficere voluerit, concedamus. Sin autem, legatus noster vtrasque partes audiat: & si nihil fuerit ex parte supradicti Rainaldi amplius, quod impediat ab ipso Iordane Sacramentum, quod ita constent hæc vt dicta sunt accipiat: & nos Canonum, ac legum scita sequentes deinceps non prohibemus quin alii viro, si voluerit, prædicta filia eius nubat: tantum in Domino. (Causa XXXI, Q.II, C.1)

Wenn feststehen sollte, dass es wahr ist, was uns die Legaten über den Prinzen Jordan 3 berichtet haben, nämlich dass er zu seinem Leidwesen seine kleine Tochter gegen ihren Willen mit Rainald, dem Sohn des Rodel[ius] verlobt hatte – sie weinte und wehrte sich nach Kräften; auch die Mutter und die Verwandten waren damit nicht einverstanden und hatten großes Mitleid [mit ihr]. Weil nun die Autorität der Rechtsnormen und der Gesetze derartige Verlobungen (wie weiter unten gezeigt wird) nicht anerkennt, und damit nicht denen, die die Gesetze und Rechtsnormen nicht kennen, das, was wir sagen, hart erscheint: so mildern wir das Urteil dahingehend, dass, wenn der Prinz mit Zustimmung der Mutter des Mädchens und der Verwandtschaft das, was begonnen wurde, vollenden will, wollen wir Nachsicht walten lassen. Wenn aber nicht, soll unser Legat beide Seiten anhören: Und wenn es von Seiten des oben erwähnten Rainaldus nichts weiter gibt, was einen Eid von Jordan verhindert: [dann soll er schwören,] dass sie so übereinstimmen und dass er das, was besprochen wurde, annimmt. Indem wir die Verordnungen der Rechtsnormen und Gesetze befolgen, untersagen wir sodann nicht, dass sich seine besagte Tochter mit irgendeinem anderen Mann vermählt: solange es im Herrn [geschieht] (1 Kor 7,39). (MÜ)

Dieser Fall wurde von Gratian kräftig gegen den Strich gebürstet, um als Beleg seiner Rechtsansicht herhalten zu können, denn eigentlich setzte Papst Urban ja die Zustimmung der Verwandschaft als konstitutiv für die Ehe voraus. Auf jeden Fall fand er hier eine päpstliche Bestätigung für die Rechtmäßigkeit seiner Berufung auf 1 Kor 7.

Causa XXXI Quastio II Cap. 2

Das zweite Kapitel ist ein kräftiges sed contra – ein Andererseits – und stammt aus der Palea-Tradition der Handschriften, einer späteren Ergänzung der ursprünglichen Sammlung, die Material nachträgt, das Gratian bewußt nicht aufgenommen hatte. Schon die Ausgabe von 1661 macht das textkritisch deutlich.

Palea-Tradition zur Causa XXXI Q2 C2 - Auflage von 1661
Palea-Tradition zur Causa XXXI Q2 C2 – Auflage von 1661

Dieses zweite Kapitel der Quaestio zitiert eine Entscheidung von Papst Hormisdas, der von 514 bis 523 amtierte. Dieser Papst aus dem 6. Jh. bestimmte, dass ein Eheversprechen, das ein Vater für seinen minderjährigen Sohn abgibt, für diesen Sohn auch nach Erreichen des Alters der Unterscheidung verbindlich ist und verlangt, dass diese Entscheidung von allen Rechtgläubigen beachtet werde. Es liegt auf der Hand, warum Gratian dieses Dekret nicht in seine Sammlung aufnahm.

Causa XXXI Quastio II Cap. 3

Wenden wir uns lieber wieder dem ursprünglichen Gratian zu und schauen auf das nächste Beispiel, das er bringt. Wiederum handelt es sich um ein Urteil von Papst Urban II.

Quorum unum futurum est corpus, unus debet esse et animus: atque ideo nulla inuita est copulanda alicui.
Diejenigen, die ein Fleisch sein werden 4, müssen auch einen Willen haben: und daher darf keine [Frau] gegen ihren Willen mit jemandem verheiratet werden.

Item Sanctio, Regi Aragonum.
De neptis tuae coniugio, quam te cuidam militi daturum necessitatis instante articulo sub fidei pollicitatione firmasti, hoc equitate dictante decernimus, ut, si illa uirum illum, ut dicitur, omnino rennuit, et in eadem uoluntatis auctoritate persistit, ut uiro illi prorsus se deneget nupturam, nequaquam eam inuitam et renitentem eiusdem uiri cogas sociari coniugio. Quorum enim unum corpus est, unus debet esse et animus, ne forte, cum uirgo fuerit alicui inuita copulata contra Domini Apostolique preceptum aut reatum discidii, aut crimen fornicationis incurrat. Cuius uidelicet peccati malum in eum redundare constat, qui eam coniunxit inuitam. Quod pari tenore de uiro est sentiendum.

Das gilt auch für Sancho, den König von Aragon. 5
Bezüglich der Vermählung deiner Enkelin (ist zu sagen), Du hast mit einem eidesstattlichen Versprechen bekräftigt, sie einem Soldaten zu geben, da ein dringender Zeitpunkt bevorstehe. Wir entscheiden in dieser Sache nach dem, was die Gerechtigkeit sagt: falls sie, wie gesagt wird, den Mann überhaupt ablehnt und auf der Stärke/Macht ihres Willens beharrt, dass sie sich – wie gesagt – weigert, ihn zu heiraten – so darfst du sie auf keinen Fall gegen ihren Willen und trotz ihrer Weigerung zwingen, sich mit diesem Mann in einer Ehe zu verbinden. Diejenigen, die ein Fleisch sind, müssen auch einen Willen haben, damit sie nicht vielleicht – weil eine Jungfrau gegen die Vorschrift des Herrn und des Apostels wider ihren Willen mit irgendjemand verbunden wurde – entweder in die Schuld der Scheidung oder das Verbrechen des Ehebruchs gerät. Offensichtlich steht fest, dass das Unrecht dieser Sünde auf den fällt, der sie gegen ihren Willen geheiratet hat. Dies ist gleichlautend einen Mann betreffend zu urteilen.

Damit war für Gratian klar: eine Frau kann nicht gegen ihren Willen und ohne ihre Zustimmung verheiratet werden.

Fortsetzung

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  1. Der Text der Paulus-Auslegung des Ambosiaster findet sich in MPL XVII, 237
  2. Gemeint ist Papst Urban II (1088-1099)
  3. Jordan I von Capua .
  4. Gen 2,24; Mt 19,5-6; 1 Kor 6,16; Eph 5,31
  5. Sancho I., herrschte von 1063 bis 1094 als König von Aragon.

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