Die Ansicht, das Jesus die Tora aufgehoben habe, ist weit verbreitet. Entsprechende Passagen lassen sich im NT leicht finden, besonders in der Briefliteratur (bspw. Eph 2,15). Aber es wäre nicht die Bibel, wenn nicht auch eine ganz andere Sichtweise zu Wort kommen würde. Daher habe ich hier eine entsprechende Sammlung aus den kanonischen Evangelien zusammengetragen.
Im Folgenden wird immer wieder im griechischen Text der Ausdruck νόμος (nómos) gebraucht. Er hat nach Gemoll folgendes Bedeutungsspektrum:
- Brauch, Sitte, Herkommen
- Satzung, Gesetz
- Setzweise, Tonart
Seit der LXX ist es üblich, damit auch den hebräischen Ausdruck תורה (Tora) wiederzugeben, der allerdings wesentlich mehr beinhaltet als die Bedeutung des deutschen Wortes »Gesetz«. Alle nun folgenden Übersetzungen stammen von mir.
Mt 5,17 -18
Μὴ νομίσητε ὅτι ἦλθον καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας· οὐκ ἦλθον καταλῦσαι ἀλλὰ πληρῶσαι. ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν· ἕως ἂν παρέλθῃ ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ, ἰῶτα ἓν ἢ μία κεραία οὐ μὴ παρέλθῃ ἀπὸ τοῦ νόμου, ἕως ἂν πάντα γένηται.
17 Meint nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen: ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. 18 Amen, denn ich sage euch: bis der Himmel oder die Erde vergehen, vergeht nicht ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetz, bis alles geschieht.
Mt 7,21-23
Οὐ πᾶς ὁ λέγων μοι· κύριε κύριε, εἰσελεύσεται εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν, ἀλλ’ ὁ ποιῶν τὸ θέλημα τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν τοῖς οὐρανοῖς. πολλοὶ ἐροῦσίν μοι ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ· κύριε κύριε, οὐ τῷ σῷ ὀνόματι ἐπροφητεύσαμεν, καὶ τῷ σῷ ὀνόματι δαιμόνια ἐξεβάλομεν, καὶ τῷ σῷ ὀνόματι δυνάμεις πολλὰς ἐποιήσαμεν; καὶ τότε ὁμολογήσω αὐτοῖς ὅτι οὐδέποτε ἔγνων ὑμᾶς· ἀποχωρεῖτε ἀπ’ ἐμοῦ οἱ ἐργαζόμενοι τὴν ἀνομίαν.
21 Nicht jeder, der »Herr! Herr!« zu mir sagt, wird in das Himmelreich eingehen, sondern der, der den Willen meines Vaters im Himmel tut. 22 Viele werden mir an diesem Tag sagen: »Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit, und haben wir in deinem Namen Dämonen ausgetrieben, und in deinem Namen viele Wunder getan?« 23 Und dann werde ich ihnen unumwunden erklären: »Ich habe euch nie gekannt. Weicht von mir, Ausüber der Gesetzlosigkeit (Ps 6,9 LXX).
Die Gesetzlosigkeit ἀνομία (anomía) ist das, was ἄνομος (a-nomos), also gegen das Gesetz gerichtet ist: die Übertretung der Tora.
Mt 13,41
ἀποστελεῖ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου τοὺς ἀγγέλους αὐτοῦ, καὶ συλλέξουσιν ἐκ τῆς βασιλείας αὐτοῦ πάντα τὰ σκάνδαλα καὶ τοὺς ποιοῦντας τὴν ἀνομίαν
41 Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seiner Königsherrschaft alle Ärgernisse und die, die Gesetzlosigkeit (anomía) tun, heraussammeln.
Mk 10,17-19
Καὶ ἐκπορευομένου αὐτοῦ εἰς ὁδὸν προσδραμὼν εἷς καὶ γονυπετήσας αὐτὸν ἐπηρώτα αὐτόν· διδάσκαλε ἀγαθέ, τί ποιήσω ἵνα ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσω; ὁ δὲ Ἰησοῦς εἶπεν αὐτῷ· τί με λέγεις ἀγαθόν; οὐδεὶς ἀγαθὸς εἰ μὴ εἷς ὁ θεός. τὰς ἐντολὰς οἶδας· μὴ φονεύσῃς, μὴ μοιχεύσῃς , μὴ κλέψῃς, μὴ ψευδομαρτυρήσῃς, μὴ ἀποστερήσῃς, τίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα.
17 Und als er auf den Weg hinausging, da lief einer hinzu und fiel vor ihm auf die Knie, er fragte ihn: »Guter Lehrer, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben erben werde?« 18 Da sagte Jesus zu ihm: »Warum nennst du mich ‚gut‘? Niemand ist gut, außer einem, Gott. 19 Du kennst die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht berauben, ehre deinen Vater und die Mutter. (Ex 20,12-16; Dtn 5,16-20 LXX)
Lk 10,25-27
Καὶ ἰδοὺ νομικός τις ἀνέστη ἐκπειράζων αὐτὸν λέγων· διδάσκαλε, τί ποιήσας ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσω; ὁ δὲ εἶπεν πρὸς αὐτόν· ἐν τῷ νόμῳ τί γέγραπται; πῶς ἀναγινώσκεις;
25 Und siehe: ein Gesetzeskundiger stand auf, und sagte, um ihn auf die Probe zu stellen: »Lehrer, was ist zu tun, damit ich das ewige Leben erben werde?« 26 Da sagte er ihm: »Was ist im Gesetz geschrieben? Wie liest Du?«
Lk 16,17
εὐκοπώτερον δέ ἐστιν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν παρελθεῖν ἢ τοῦ νόμου μίαν κεραίαν πεσεῖν.
17 Es ist leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Häkchen der Tora hinfällig wird.
Mehr zu diesem Vers findet sich hier.
Lk 16,31
εἶπεν δὲ αὐτῷ· εἰ Μωϋσέως καὶ τῶν προφητῶν οὐκ ἀκούουσιν, οὐδ’ ἐάν τις ἐκ νεκρῶν ἀναστῇ πεισθήσονται.
31 Da sagte er ihm: Wenn sie auf Moses und die Propheten nicht hören, werden sie sich nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.
Joh 10,35
In einer Diskussion über die Auslegung eines Psalmverses sagt der johanneiche Christus: … οὐ δύναται λυθῆναι ἡ γραφή. Zu deutsch: … die Schrift kann nicht aufgehoben werden.
Für mich sieht das ganz nach einem roten Faden aus.
Ich glaube nicht einmal, dass es Jesus war. Doch die Relativierung im Galater- resp. Römerbrief (z.B. Gal 3,23 »Bevor aber der Glaube kam, wurden wir alle gemeinsam im Gefängnis des Gesetzes in Gewahrsam gehalten – auf den Glauben hin, der sich in der Zukunft offenbaren sollte«, Übersetzung Zürcher Bibel) eines Paulus und die damit ganz klar aufgehobenen göttlichen Gebote/Verbote (ausser dem Zehnwort) habe ich nie verstanden. Ob er mit dieser durchaus politisch motivierten Auslegung nicht eine für das ganze Urchristentum fatale Fehlentwicklung in die Wege geleitet hat? Ich bin kein grosser Kenner des NT und bin für eine Aufklärung sehr verbunden.