Beobachtungen zum »Stürmerspruch« in Lk 16,16-18

Ein in der Exegese umstrittener Satz ist der sogenannte »Stürmerspruch« aus Lk 16,16, den ich hier einmal in der Fassung der Lutherbibel von 1986 wiedergebe: Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt, und jedermann drängt sich mit Gewalt hinein. Bemerkenswert ist, was etliche Übersetzungen – auch Luther – aus diesem Vers gemacht haben.

Zur Übersetzung

Zunächst einmal hier das »Original«: Ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται ⸀μέχρι Ἰωάννου· ἀπὸ τότε ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ εὐαγγελίζεται καὶ πᾶς εἰς αὐτὴν βιάζεται.1 Wörtlich übersetzt lautet der erste Halbsatz: das Gesetz (gemeint ist die Tora) und die Propheten bis Johannes. In der EÜ hört sich das dann so an:

»Bis zu Johannes hatte man nur das Gesetz und die Propheten«. Das nenne ich eine projektive Übersetzung. Noch weiter treibt diese Tendenz die »Neue evangelistische Übersetzung«: »Bis Johannes der Täufer zu predigen begann, hattet ihr nur Mose und die Propheten«. 2 Und die neue Genfer Übersetzung bietet: »Die Zeit des Gesetzes und der Propheten ist mit Johannes zu Ende gegangen«.

Der Kontext

Dabei bleibt völlig unklar, wie man im Kontext des Lukasevangeliums ein relativierendes »nur« im Zusammenhang mit der Tora und den Propheten einfügen oder gar ihre Zeit für beendet erklären kann. Denn direkt anschließend sagt Lukas in 16,17: 3 Es ist leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Häkchen der Tora hinfällig wird. (MÜ) Das klingt nicht gerade nach einer Relativierung oder einem Ablaufdatum von Tora und Propheten.

Zum weiteren Kontext dieses Verses gehört die direkt folgende Perikope vom armen Lazarus (Lk 16,19-31), die keine Reportage aus dem Jenseits ist, sondern in der Aussage mündet: Wenn sie nicht auf Mose und die Propheten hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht (Lk 16,31; Neue Genfer Übersetzung) Ostern ist ohne Tora und die Propheten nicht möglich.

Mit Gewalt ins Evangelium?

Nun wieder zum eigentlichen »Stürmerspruch«: Die Tora und die Propheten bis Johannes: von da an wird die Gute Nachricht – die Königsherrschaft Gottes – gebracht und jeder drängt sich mit Gewalt in sie hinein. (MÜ)

Wer drängt sich hier mit Gewalt wo hinein? Und was ist die Rolle der Tora und der Propheten dabei? Dazu demnächst mehr.

Show 3 footnotes

  1. Der kleine Haken vor dem méchri (= bis dass, so lange als) weist auf andere Lesarten hin: etliche Handschriften lesen stattdessen ἕως, was so lange als bzw. so lange, bis bedeutet. Der Codex Bezae Cantabrigiensis fügt noch ἐπροφήτευσαν hinzu, und gleicht den Spruch so der Fassung von Mt 11,13 an: πάντες γὰρ οἱ προφῆται καὶ ὁ νόμος ἕως Ἰωάννου ἐπροφήτευσαν·Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis hin zu Johannes. (Ü: Luther 1984)
  2. Beachtlich: von den 14 Worten dieser »Übersetzung« stehen 8 nicht im griechischen Text!
  3. Εὐκοπώτερον δέ ἐστιν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν παρελθεῖν ἢ τοῦ νόμου μίαν κεραίαν πεσεῖν.

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