Joh 8,44 ist einer der problematischsten Verse des vierten Evangeliums und wurde/wird von Antisemiten aller Zeiten und Orte immer wieder gerne zitiert. Wie aber ist der Satz nun zu verstehen? Ein Blick auf seinen Kontext und die Auslegungsgeschichte helfen weiter.
Der Kontext:
Was gerne übersehen wird: der johanneische Christus spricht an dieser Stelle mit Juden, die an ihn glauben (Joh 8,31). Und am Ende dieser extrem polemischen Diskussion spricht Christus seinen Kontrahenten auch nicht ab, dass sie Kinder Abrahams seien (Joh 8,56), wenn auch die Abrahamskindschaft kritisch relativiert wird – denn auch Ismael war ein Sohn Abrahams – allerdings von der Sklavin Hagar (vgl. Joh 8,35).
Die Aussage hat also eindeutig nicht die Absicht, eine Art neutestamentliche Charakterisierung des Judentums zu sein (s. Joh 4,22!). Aber wie ist sie dann zu verstehen? Sie steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Vorwurf Jesu, seine Gesprächspartner wollten ihn töten: »Ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.« Der Mörder von Anfang an aber ist in der Bibel Kain. Ich schlage daher vor, diese johanneische Polemik im Zusammenhang mit einer alten jüdischen Auslegung von Gen 4,1 zu sehen, die im Neuen Testament wohl bekannt war. Doch sehen wir zu:
Die Übersetzung von Gen 4,1:
Der Text hat schon den frühen Interpreten Mühe gemacht, denn wörtlich übersetzt steht dort: »Und der Mensch erkannte die Eva, seine Frau und sie empfing und sie gebar den Kain und sie sprach: Ich habe mir erworben (kaniti) einen Mann – mit dem HERRN.«
Der Text versucht eine Etymologie des Namens Kain vom Verb »erwerben« – aber wieso hat Eva Kain mit dem HERRN erworben, wenn Adam sie erkannte? Und wieso bezeichnet Eva ihr neugeborenes Kind als Mann?
Die Septuaginta versucht diese Problemstellung durch folgende Übersetzung zu lösen:
Αδαμ δὲ ἔγνω Ευαν τὴν γυναῖκα αὐτοῦ, καὶ συλλαβοῦσα ἔτεκεν τὸν Καιν καὶ εἶπεν ᾿Εκτησάμην ἄνθρωπον διὰ τοῦ θεοῦ.
»Adam aber erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain und sie sagte: Ich habe einen Menschen gewonnen durch Gott.«
Ein weiterer Versuch, diese Schwierigkeiten, die der Text aufgibt, zu lösen, findet sich in einer anderen sehr alten Auslegungstradition. Ein wichtiger Zeuge ist das Targum Pseudo-Jonathan, eine kommentierende aramäische Übersetzung des hebräischen Textes. Dort heißt es:
Targum Pseudo-Jonathan:
וְאָדָם יְדַע יַת חַוָה אִיתְּתֵיהּ דַהֲוָה חֲמֵידַת לְמַלְאָכָא וְאַעֲדִיאַת וִילֵידַת יַת קַיִן וַאֲמָרַת קָנִיתִי לְגַבְרָא יַת מַלְאָכָא דַיְיָ
»Und Adam erkannte Eva, seine Frau, dass sie nach dem Engel Verlangen gehabt hatte und sie empfing und sie gebar den Kain und sie sagte: Ich habe einen Mann erworben, den Engel des HERRN.« (MÜ)
Dass Kain von einem Engel – nämlich dem Teufel – gezeugt wurde, ist eine Interpretation, die offenbar im Hinblick auf Gen 3,1 ff. und Gen 6,1-4 geschah. Ihr ausführlichster Zeuge findet sich in einem berühmten, unvollendet gebliebenen Kommentar zur Tora.
Pirque de Rabbi Eliezer
Ich zitiere jetzt bewusst ausführlicher: die Rabbinen nennen immer den jeweils zu deutenden Bibelvers (kursiv geschrieben) – und geben dann ihre Deutung – meist mit Hilfe eines anderen Bibelverses.
כתיב ומפרי העץ אשר בתוך הגן תנא רבי זעירא אומר מפרי העץ אין העץ הזה אלא אדם שנמשל כעץ שנאמ‘ כי האדם עץ השדה וגו‘ אשר בתוך הגן, אין בתוך הגן אלא לשון נקייה מה שבתוך הגוף אשר בתוך הגן אשר בתוך האשה ואין גן אלא האשה שנמשלה לגן שנאמ‘ גן נעול אחותי כלה זו מה הגנה כל מה שנזרעה היא צומחת ומוציאה כך האשה הזאת כל מה שנזרע הרה ויולדת מבעלה.
„Es ist geschrieben: Und von den Früchten des Baumes, der inmitten des Gartens ist (Gen 3,3). R. Ze’era lehrte: Von den Früchten des Baumes – das bedeutet nicht „einen Baum“ sondern „einen Mann“, der mit einem Baum verglichen wird, denn es wird gesagt: Denn der Mann ist ein Baum des Feldes usw. (Dtn 20,19)1. Der im Inneren des Gartens ist. Im Inneren des Gartens ist nichts anderes als ein Euphemismus2 für: was im Inneren des Körpers ist. Das was im Inneren des Gartens ist [bedeutet eigentlich] das, was im Inneren der Frau ist. Und Garten bedeutet nichts anderes als Frau, die mit einem Garten verglichen wird. Denn es wird gesagt: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, eine Braut (Hld 4,12). Wie dieser Garten ist sie: Alles, was [in sie] hineingesät wird, das lässt sie sprossen und versorgt einen damit. So ist diese Frau: Was von ihrem Mann gesät wird, empfängt sie und wird sie gebären.“ (MÜ)
בא אליה (ורוכבת נחש) [רוכב הנחש] ועברה את קין ואחר כך עברה את הבל שנא‘ והאדם ידע את חוה אשתו מהו ידע שהיתה מעוברת וראתה דמותו שלא היה מן התחתונים אלא מן העליונים והביטה ואמרה קניתי איש את יי‘, רבי ישמעאל אומ‘ משם עלו ונתייחסו כל דורות הרשעים המורדים והפושעים במרום ואומ‘ אין אנו צריכין לטיפת גשמיך שנאמר ויאמרו לאל סור ממנו.
„Er kam zu ihr (und sie ritt eine Schlange) [die Schlange reitend]3 und sie wurde schwanger mit Kain und danach wurde sie ebenso mit Abel schwanger, denn es wird gesagt: und Adam erkannte Eva, seine Frau (Gen 4,1). Was bedeutet er erkannte? Dass sie schwanger geworden war4. Und sie sah [an] seine[r] äußere[n] Erscheinung5, dass er nicht von den Irdischen6 stammte sondern von den Himmlischen7 und sie schaute8 und sie sprach: ich habe einen Mann erworben – mit dem HERRN (Gen 4,1)9. R. Jischmael sagte: Von da an wurden sie gezählt und in Abstammungslisten eingetragen: alle Geschlechter der Bösen, der Rebellierenden und der Übertreter in der Höhe und sie sagen: wir brauchen nicht einen Tropfen deines Regens, denn es wird gesagt: Und sie sagten zu Gott: Wende dich von uns! (Hiob 21,14)“ (MÜ)
Paulus:
Dass Paulus diese Tradition kannte, wird für mich eindeutig in dieser Aussage klar:
ζηλῶ γὰρ ὑμᾶς θεοῦ ζήλῳ, ἡρμοσάμην γὰρ ὑμᾶς ἑνὶ ἀνδρὶ παρθένον ἁγνὴν παραστῆσαι τῷ Χριστῷ· φοβοῦμαι δὲ μή πως, ὡς ὁ ὄφις ἐξηπάτησεν Εὕαν ἐν τῇ πανουργίᾳ αὐτοῦ, φθαρῇ τὰ νοήματα ὑμῶν ἀπὸ τῆς ἁπλότητος [καὶ τῆς ἁγνότητος] τῆς εἰς τὸν Χριστόν.
»Denn ich umeifere euch mit Gotteseifer: Um euch einem einzigen Mann wie eine gottgeweihte Jungfrau an die Seite zu stellen, habe ich euch dem Messias verlobt. Ich fürchte aber, wie die Schlange in ihrer Arglist Eva täuschte, so möchte auch euer Denken verderben und sich von der Gutherzigkeit [und der gottgeweihten Gesinnung] gegen den Messias abbringen lassen.«
(2 Kor 11,2-3; Ü: Fridolin Stier)
Johannes:
Noch deutlicher wird das Motiv im ersten Johannesbrief angesprochen:
Παιδία, μηδεὶς πλανάτω ὑμᾶς· ὁ ποιῶν τὴν δικαιοσύνην δίκαιός ἐστιν, καθὼς ἐκεῖνος δίκαιός ἐστιν· ὁ ποιῶν τὴν ἁμαρτίαν ἐκ τοῦ διαβόλου ἐστίν, ὅτι ἀπ’ ἀρχῆς ὁ διάβολος ἁμαρτάνει. εἰς τοῦτο ἐφανερώθη ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ, ἵνα λύσῃ τὰ ἔργα τοῦ διαβόλου. Πᾶς ὁ γεγεννημένος ἐκ τοῦ θεοῦ ἁμαρτίαν οὐ ποιεῖ, ὅτι σπέρμα αὐτοῦ ἐν αὐτῷ μένει, καὶ οὐ δύναται ἁμαρτάνειν, ὅτι ἐκ τοῦ θεοῦ γεγέννηται. ἐν τούτῳ φανερά ἐστιν τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ καὶ τὰ τέκνα τοῦ διαβόλου· πᾶς ὁ μὴ ποιῶν δικαιοσύνην οὐκ ἔστιν ἐκ τοῦ θεοῦ καὶ ὁ μὴ ἀγαπῶν τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ. Ὅτι αὕτη ἐστὶν ἡ ἀγγελία ἣν ἠκούσατε ἀπ’ ἀρχῆς, ἵνα ἀγαπῶμεν ἀλλήλους, οὐ καθὼς Κάϊν ἐκ τοῦ πονηροῦ ἦν καὶ ἔσφαξεν τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ· καὶ χάριν τίνος ἔσφαξεν αὐτόν; ὅτι τὰ ἔργα αὐτοῦ πονηρὰ ἦν, τὰ δὲ τοῦ ἀδελφοῦ αὐτοῦ δίκαια.
»Kinder, niemand verführe euch! Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht, wie er gerecht ist. Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel, denn der Teufel sündigt von Anfang an. Hierzu ist der Sohn Gottes offenbart worden, damit er die Werke des Teufels vernichte. Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist. 10 Hieran sind offenbar die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels: Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt.
Denn dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen. Nicht wie Kain sollen wir sein, der aus dem Bösen war und seinen Bruder ermordete. Und weshalb ermordete er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.«
(1 Joh 3, 7-12; Elberfelder)
Bis in den Wortlaut hinein ist für mich die inhaltliche Nähe zu der Diskussion in Joh 8 gegeben. Jesu Diskussionspartner haben (wie Kain) den Teufel zum Vater, weil sie (wie Kain) ihren Bruder töten wollen. Ein letzter Beleg, diesmal aus einem apokryphen Evangelium des 2. Jh. n. Chr., das für die christliche Volksfrömmigkeit enorme Bedeutung hatte und hat:
Das Protoevangelium des Jakobus
»Als nun ihr [Marias]sechster Monat gekommen war, kam Joseph heim von dem Bauplatz, wo er arbeitete. Und da er sei Haus betreten hatte, fand er Maria schwanger. Da barg er sein Angesicht in den Händen, warf sich zu Boden auf seinem Mantel, vergoss bittere Tränen und sprach: „Mit welcher Stirn soll ich vor den Herrn, meinen Gott treten? Welches Gebet soll ich sprechen wegen dieses jungen Mädchens? Denn als Jungfrau habe ich sie empfangen vom Tempel des Herrn und sie nicht behütet. Wer hat mich betrogen? Wer hat diese Untat in meinem Haus begangen und diese Jungfrau befleckt? Wiederholt sich nicht die Geschichte Adams an mir? Während er dem Gebete oblag, kam die Schlange zu Eva, fand sie allein und hinterging sie. Ist es nicht auch mir so geschehen?“«
(Proto-Evangelium des Jakobus XIII, Übersetzung von Henri Daniel Rops)
Fazit:
In dieser innerjüdischen Diskussion (siehe dazu den Kommentar von Klaus Wengst) verwendet der johanneische Christus eine alte jüdische Auslegungstradition zu Gen 4,1, die sich auch im jungen Christentum größerer Beliebtheit erfreute.
Anmerkung: Der Artikel wurde im Oktober 2019 aktualisiert.
Fussnoten
- Die Aussage in Dtn 20,19 ist etwas eigenartig, wörtlich steht hier: ki ha’adam ez hasadæ = denn der Mensch ein Baum des Feldes. Die LXX übersetzt: μὴ ἄνθρωπος τὸ ξύλον τὸ ἐν τῷ ἀγρῷ – (ist) etwa ein Mensch der Baum, der auf dem Feld (ist)? Dieser Übersetzung schließen sich die meisten gängigen Übersetzungen an. Genauer ist die Übersetzung von Philippson, der die Worte so überträgt: denn des Menschen ist der Baum des Feldes – was auch grammatikalisch besser passt. Wenn es dann im nächsten Vers heißt: Nur einen Baum, von dem Du weißt, dass er nicht ein Baum ist um von ihm zu essen, ihn darfst du verderben – dann lag die Assoziation zu Gen 3,6 nahe, wo von einem Baum die Rede ist, von dem gut zu essen ist. Dieser Verbindung bedient sich die Auslegung von R. Ze’era. ↩
- Wörtlich: ein reiner Ausdruck↩
- Der auf der Schlange reitende Engel (s.u.) ist nach antiker Überzeugung der Satan.↩
- Gemeint ist: Adam erkannte, dass sie von jemand anderem als von ihm schwanger geworden war.↩
- oder sein Abbild, sein Aussehen, seine Gestalt. Das Wort wird in Gen 1,26 verwendet: Und Gott sprach: Wir wollen einen Menschen machen, in unserem Bild, wie unser Aussehen.↩
- Wörtlich: von den Unteren↩
- Wörtlich: von den Höheren. Vgl. Irenäus von Lyon Adv. Haer. I,30,1: Alii autem rursus Cain a superiore principalitate dicunt.(FC 8,1 S. 350) „Wieder andere vertreten die Lehre, dass Kain von der oberen Herrschaft (abstammt)“. (Ü: Norbert Brox). Brox vermutet, dass die griechische Diktion dieses Abschnitts bei Theoderet erhalten geblieben ist, der in haer. 1,15 schreibt: Ἄλλοι δὲ, οὓς Καῖνοὺς ὀνομάζουσι, καὶ τὸν Κάῖν φασὶν ἐκ τῆς ἄνωθεν αὐθεντίας λελυτρῶσθαι (PG 83, 368B). „Andere aber, die sie Kainäer nennen, sagen, dass die Mächte von oben Kain losgekauft hätten“ (MÜ).↩
- Hifil von נבט↩
- Da Kain von einem Engel gezeugt wurde und sich als Kind schon deutlich von anderen Kindern unterschied, wurde die rätselhafte Aussage Evas, sie habe einen Mann erworben, auf das riesenhafte Aussehen dieses Kindes bezogen. Aus Gen 6,1-4 schloss man, dass durch die Verbindung eines Engels mit einer menschlichen Frau Riesen entstehen würden. Die genauso rätselhafte Aussage Evas, sie habe das Kind mit dem HERRN erworben, wurde durch die himmlische Vaterschaft bei Kain erklärt.↩
Die Stelle „Ihr habt den Teufel zum Vater . . .“ bei Joh 8,44 wird von Peter Strasser anders gedeutet. In seinem Artikel „Religion heißt nicht Kulturkampf“ in der Wochenzeitung „Die Furche“, Nr.42, 18. Oktober 2018, Seite 15, schreibt er über Joh 8,44:
“ . . . Aber wer ist jener Teufel? Wir wissen, dass es bis ins dritte Jahrhundert nach Christus wirkkräftige Glaubensfraktionen gab, darunter die sogenannten Gnostiker. Diese hielten mehrheitlich den Schöpfer der Welt, das heißt Jahwe, Gott der Juden, für den Teufel, von dem der gute Gott, der über allem thronte, wohl zu unterscheiden war. Die Frage, ob Religion Krieg sei, erfordert also eine differenzierte Einlassung:
Wer sich nicht mit der Lüge, der Hölle, dem ewigen Tod der Seele verbünden möchte, der tut gut daran, die Anhänger des Teufels – und als solche werden im christlichen Antijudaismus die Söhne Abrahams betrachtet – mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen. …“
Vielleicht könnten Sie in einem Leserbrief an die Furche auf die alternative Auslegungsmöglichkeit dieser Johannes-Stelle hinweisen.
Ich habe den Artikel von Peter Strasser nicht gelesen, aber Versuche, das vierte Evangelium mit Hilfe der Gnosis zu erklären, müssen als überholt gelten. Das vierte Evangelium hat die Gnostiker beeinflusst, aber nicht umgekehrt.