Rabbi Chija und Rabbi Janai diskutieren, Hieronymus hört zu

Eine spezielle Frage zur Erzählung von der Bindung Isaaks ist die Bedeutung des Ausdrucks Morija – also des Ortes, an den Abraham mit einem seiner Söhne geschickt wurde. Hier ein kurzer Blick in die Diskussion:

Im Midrasch Bereschit Rabba werden die Meinungen von Rabbi Chija und Rabbi Janai angeführt:

ולך לך אל ארץ המוריה
:רבי חייא רבה ורבי ינאי, חד אמר
.למקום שהוראה יצאה לעולם
.ואוחרנא אמר: למקום שיראה יצאה לעולם
:דכוותה דביר ר‘ חייא ורבי ינאי, חד אמר
.ממקום שהדיברות יוצאות לעולם
.וחד אמר: ממקום שהדיבור יוצא לעולם

»Und mach dich auf in das Land Morija (Gen 22,2)
Rabbi Chija der Große und Rabbi Janai, der eine sagte:
(Die Bedeutung von Morija ist) nach dem Ort (zu verstehen): weil die Lehre 1 (von dort) in die Welt ausgegangen ist.
Und der andere sagte: (Die Bedeutung von Morija ist) nach dem Ort (zu verstehen): weil die Gottesfurcht 2 (von dort) in die Welt ausgegangen ist.
Ähnlich verhält es sich mit (der Herleitung von) debir (=dem Allerheiligsten). 3 Rabbi Chija und Rabbi Janai, der eine sagte:
(Es geschah) von diesem Ort, dass die Worte (der Offenbarung) in die Welt hinausgingen.
Und der eine sagt: (es geschah) von diesem Ort, dass das (göttliche) Wort in die Welt hinausging.« (MÜ)

Das Echo dieser Diskussion bei Hieronymus

Im Buch der hebräischen Untersuchungen zur Genesis kann man diese Diskussion in der Überlieferung durch Hieronymus verfolgen. Welche Bedeutung hat Morija?

(Cap. XII, Vers. 2.) «Et dixit ei Deus: Tolle filium tuum unigenitum, quem diligis, Isaac, et vade in terram excelsam, et offer illum ibi in holocaustum super unum de montibus quem ego dicam tibi». Difficile est idioma linguae Hebraeae in Latinum sermonem vertere. Ubi nunc dicitur, vade in terram excelsam, in Hebraeo habet, MORIA (מריה), quod Aquila transtulit τὴν καταφανῆ, hoc est, lucidam: Symmachus, τῆς ὀπτασίας, hoc est, visionis. Aiunt ergo Hebraei hunc montem esse in quo postea templum conditum est in area Ornae Iebusaei, sicut et in Paralipomenis scriptum est: Et coeperunt aedificare templum in mense secundo, in secunda die mensis, in monte Moria (II Paralip. III, 1). Qui idcirco illuminans interpretatur et lucens, quia ibi est DABIR (דביר), hoc est, oraculum Dei: et Lex et Spiritus sanctus, qui docet homines veritatem, et inspirat prophetias.

(Gen 22,2) »Und Gott sagte ihm: Nimm deinen einziggezeugten Sohn, den du liebst, Isaak, und ziehe in das hohe Land und opfere ihn dort zum Ganzfeueropfer auf einem der Berge, den ich dir nennen werde.« Es ist schwierig, die Eigenart der hebräischen Sprache in die lateinische Redeweise zu übertragen. Wo es jetzt heißt, ziehe in das hohe Land, steht im Hebräischen morijah, was Aquila als tḕn katafanē – das bedeutet das leuchtende (Land) übersetzt. Symmachus (hat) tḕs optasías, das heißt (Land) der Vision. Daher sagen die Hebräer, dass dies der Berg ist, auf dem später der Tempel auf der Tenne des Jebusiters Arauna 4 errichtet wurde, wie in den Chronikbüchern geschrieben steht: Und sie begannen im zweiten Monat, am zweiten Tag des Monats, den Tempel auf dem Berg Moria zu bauen. (2 Chr 3,12) 5 Deswegen wird es (das Wort Moria) als erhellend und leuchtend ausgelegt, weil dort das debir 6 ist, das bedeutet die Orakelstätte Gottes: und das Gesetz und der Heilige Geist, der die Menschen die Wahrheit lehrt, und der die Propheten inspiriert.

Fazit

Kann es Zufall sein, dass beide Male der Ausdruck דביר (debir) eine so prominente Rolle spielt? Denn beiden Versionen ist eigen, dass die Identifizierung Morijas mit dem Tempelberg als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Welche der genannten Etymologien von Morija ist denn jetzt zutreffend? Hier eine Übersicht zu den oben angeführten Positionen. Morija ist abzuleiten von

Verb Bedeutung Vertreten von
ירה unterweisen, belehren Rabbi Chija
אור leuchten Aquila
ירא fürchten Rabbi Janai
ראה sehen Symmachus, Hieronymus

Diese Uneinigkeit zeigt, dass bereits in der Antike kein Konsens zu der Frage bestand, die Etymologie also unklar ist. Ich persönlich bevorzuge die Ableitung von »sehen«, weil sie ebenfalls von der LXX vertreten wird und gut zum Kontext passt: das Verb »sehen« ist ein Schlüsselwort der Abrahamserzählungen.

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  1. Vom Verb ירה – lehren, unterweisen. Siehe Jastrow S. 341
  2. Vom Verb ירא – fürchten.
  3. Dieser Begriff wird in 1 Kön 6,19 und 8,6 für das Innere des Tempels verwendet, das unter der Bezeichnung das Allerheiligste bekannt ist.
  4. So gibt die EÜ den Namen in 2 Sam 24,18-25 wieder. Die LXX liest Orna, ihr ist Hieronymus gefolgt. Der MT hat אֲרַוְנָה (Arawnah) als Namen, in 2 Chr 3,1 führt sie ihn als אָרְנָן (Ornan).
  5. Das Zitat des Hieronymus entspricht nicht dem heutigen Text des Chronikbuches – hat er aus dem Gedächtnis zitiert?
  6. Zur Bedeutung, siehe oben.

Ein Gedanke zu „Rabbi Chija und Rabbi Janai diskutieren, Hieronymus hört zu“

  1. Es gibt sogar noch eine weitere Deutung. Rashi verweist darauf, dass das Land von den Weisen »Morija« genannt wurde, da von dort aus die religiöse Unterweisung ( הוראה ) an die Söhne Israels erfolgen wird. Er zitiert auch Onkelos, der die Stelle mit לארעא פולחנא (»Land des Opferns«) übersetzt und damit auf die Räucherungen, die im Tempel stattfanden, anspielt, bei denen nebst Myrrhe ( מור ) auch andere wohlriechende Essenzen verwendet wurden. Zwar widerspricht Nachmanides, da zu Abrahams Zeiten noch kein Tempel in Jerusalem bestand, doch glaubt er, dass der damals schon bekannte Name »Morija« eine Prophezeiung sei.

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