1884 veröffentlichte Newman einen Essay über »Die Inspiration in ihrer Beziehung zur Offenbarung«. Sein Ansatz trug ihm harsche Kritik von rechts und links ein. Während der große protestantische Dogmengeschichtler Adolf von Harnack urteilte, dass Newman (und vor ihm Möhler) » vergeblich versucht hatten, den katholischen Begriff der Tradition mit der Geschichte und der Kritik zu versöhnen« (DG III, 731f.), attackierten traditionalistische Katholiken den Kardinal, er habe durch seine Ausführungen den Boden der Orthodoxie verlassen. Irgendetwas muss Neman also richtig gemacht haben. Ich gebe hier einige Gedanken aus dem Essay in meiner Übersetzung wieder. Eine deutsche Fassung ist nur noch gebraucht erhältlich. »Es ist in letzter Zeit gefragt worden, welche Antwort wir Katholiken auf die Behauptung geben, mit der uns heutige Menschen bedrängen: demnach würden wir unseren Konvertiten die Zustimmung zu einer Sichtweise und Auslegung der Schrift abverlangen, die die moderne Wissenschaft und die historische Forschung völlig diskreditiert haben.« (§ 1)
Natürlich ist der Kardinal nicht dieser Meinung und er argumentiert zunächst einmal die Weite des katholischen Schriftverständnisses.
»Viele Wahrheiten können über die Schrift und ihre Inhalte behauptet werden, die für unseren Glauben nicht bindend sind, das gilt zum Beispiel für die persönlichen Schlussfolgerungen aus Prämissen oder die dicta von Theologen. Dazu gehören zum Beispiel die Frage nach dem Verfasser des Buches Ijob oder der Datierung der paulinischen Briefe. Sie sind für uns nicht verpflichtend, weil sie nicht Gegenstand von ex cathedra Entscheidungen der Kirche sind. Meinungen dieser Art mögen wahr oder nicht wahr sein, und es steht uns frei sie zu akzeptieren oder abzulehnen, nachdem uns keine göttliche Äußerung über sie gewährt wurde oder wohl gewährt werden wird. Wir sind nicht an das gebunden, was der Heilige Hieronymus über die Schrift gesagt oder aus ihr erschlossen hat; noch an das, was der Heilige Augustinus oder der heilige Thomas, Cardinal Cajetan oder Pater Peronne gesagt haben. Nur was die Kirche verkündet hat, was die Konzilien, was der Papst festgelegt hat.« (§ 5)
Was aber muss ein Katholik bezüglich der Bibel glauben? Was für Dogmen gelten hinsichtlich der Heiligen Schrift? Der Kardinal antwortet in § 8:
»Ich antworte, dass es zwei solche Dogmen gibt. Eines bezieht sich auf die Autorität der Schrift, das andere auf ihre Interpretation. Bezüglich der Autorität der Schrift sind wir der Meinung, dass sie in allen Fragen des Glaubens und der Moral vollständig göttlich inspiriert ist; was ihre Interpretation angeht, sind wir der Meinung, dass die Kirche in den Fragen des Glaubens und der Moral der eine unfehlbare Ausleger des inspirierten Textes ist.«
Newman geht dann der Frage nach dem Verfasser der Heiligen Schrift nach. Im Anschluss an die Aussagen der Konzilien von Florenz und Trient, die er mit dem Satz »Deus unus et idem utriusque Testamenti auctor« wiedergibt: »der eine und derselbe Gott ist der Urheber beider Testamente«, führt er aus:
»Da gibt es eine weitere Frage, die in einer gewissen Zweideutigkeit verbleibt: die Bedeutung des Wortes auctor. Auctor ist nicht bedeutungsgleich mit dem englischen Wort author [und dem deutschen Wort Autor OA]. Zwar gibt es Beispiele im klassischen Latein, in denen auctores mit Autoren übersetzt werden können; Beispiele, in denen das Wort sogar die Bedeutung Verfasser hat. Doch ursprünglich bedeutet es Autorität. Seine eigentliche Bedeutung ist Urheber, Erfinder, Gründer, erste Ursache; (in diesem Sinn spricht der Heilige Paulus von unserem Herrn als auctor salutis [dem Urheber unseres Heiles – Hebr 2,10 Vulgata], dem auctor fidei [den Urheber des Glaubens – Hebr 12,2 Vulgata]); auf der anderen Seite waren es die inspirierten Schreibkünstler selbst, die die Verfasser ihrer Werke waren; darauf scheinen der Heilige Johannes, der Heilige Lukas und wie mir scheint, jeder Abschnitt der Paulusbriefe zu bestehen. Im Johannesevangelium lesen wir:»Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat« [Joh 21,24]. und Lukas sagt: »Ich habe gedacht, dass es gut wäre, es dir aufzuschreiben« [vgl. Lk 1,3] usw. Wie auch immer, wenn es jemand vorziehen sollte, auctor als Autor zu übersetzen, oder Verfasser – das darf ruhig sein, – nur, dann gibt es eben zwei Verfasser der Schriften, den Göttlichen und den Menschlichen.« (§ 10)
Von erfrischender Offenheit ist der Kardinal gegenüber den möglichen Ergebnissen einer historisch-kritischen Untersuchung der Texte:
»Daher haben wir keinen Grund, überrascht zu sein, noch verstößt es gegen den Glauben, dass ein kanonisches Buch zusammengestellt wurde, nicht nur mit, sondern sogar zur Gänze aus schon vorher existierenden Dokumenten. Dabei muss man allerdings immer beachten, dass die notwendige Bedingung dabei ist, dass ein inspirierter Geist dabei das höchste und letzte Urteil über das Werk ausgeübt hat, indem er bestimmt hat, was für das Werk ausgesucht und in es eingegliedert wurde.« (§ 23)
So ist auch sein Umgang mit der Frage der Verfasserschaft beschaffen:
»Das führt mich zu der Frage, ob Inspiration verlangt und beinhaltet, dass das inspirierte Buch in Form und Inhalt einheitlich sein muss, und dass alle seine Teile zueinander gehören müssen. Sicherlich nicht. Das Buch der Psalmen ist der offensichtliche Zerstörer solcher Vorstellungen. Was wirklich notwendig ist, ist ein inspirierter Herausgeber. (…) Ursprünglich scheinen die Psalmen aus fünf Büchern bestanden zu haben, von denen nur ein Teil, vielleicht das erste und zweite, von David stammen dürften. Diese ursprüngliche Anordnung ist heute zerstört, und das Konzil von Trient war so beeindruckt von den Schwierigkeiten der Verfasserangabe bei den Psalmen, dass es in seinem formellen Dekret über den biblischen Kanon, anstatt die Sammlung wie bis dahin üblich Psalmen Davids zu nennen, vom Psalterium Davidicum sprach. Dadurch wollte es ausdrücken: obgleich alle Psalmen kanonisch und inspiriert sind und in spiritueller Verbundenheit und Beziehung mit dem erwählten Psalmisten Israels stehen, dass die gesamte Sammlung nicht notwendigerweise das Werk Davids sein muss.« (§ 24)
»Aus dem, was zuletzt gesagt wurde, folgt, dass der Titel der kanonischen Bücher und ihre Zuschreibung zu unterschiedlichen Verfassern weder unter ihre Inspiration fallen, noch buchstäblich akzeptiert werden müssen. Ein Beispiel: vom Hebräerbrief wird in unseren Bibelausgaben gesagt, dass er ein Schreiben des Heiligen Paulus sei, und wirklich ist es wohl auch so. Zu leugnen, dass es so sei, könnte verwegen sein – aber die Frage nach seinem Verfasser ist keine Angelegenheit des Glaubens, so wie es seine Inspiration ist. (…) Weiters: der 89. Psalm gibt in seiner Überschrift an: Ein Gebet von Moses. Doch das hat eine ganze Reihe von katholischen Autoren von Athanasius bis Bellarmin nicht daran gehindert, zu bestreiten, dass es sein Psalm ist.« (§ 25)
Zur Väterexegese hält der Kardinal fest, dass es keinen verbindlichen Kanon oder ein festgelegtes Verzeichnis von Kirchenvätern in der katholischen Kirche gibt (§ 17), und er ist sich des Problems der unterschiedlichen Lesarten der biblischen Texte bewusst (§ 27).
Schließen möchte ich meine Übersicht mit dieser Aussage Newmans:
»Eine eigenständige Ansicht über die Schrift oder ihre Teile muss genau so wenig im Gegensatz zur Ansicht der Kirche darüber stehen, wie sie ein Angriff auf ihre Inspiriertheit sein muss.« (§ 17)
Verwiesen sei noch auf diesen von Newman zitierten Thomas-Text.