Thomas von Aquin über Auslegung und Sinn der Heiligen Schrift

Durch John Henry Kardinal Newman bin ich auf diese Aussage des Heiligen Thomas gestoßen, die gut zu dem passt, was schon Papst Gregor der Große zu diesem Thema zu sagen hatte. 

»Niemand soll verlangen, die Schrift zu nur einem Sinn zu zwingen, sodass andere Sinndeutungen vollständig ausgeschlossen werden, obwohl sie in sich Wahrheit enthalten und, ohne den buchstäblichen Sinn zu verlieren, mit der Schrift verknüpft werden können. Denn das gehört zur Würde der Heiligen Schrift, dass sie unter einem Buchstaben viele Bedeutungen enthält und deshalb den verschiedenen Verständnismöglichkeiten der Menschen entspricht. So kann jeder sich wundern, dass er in der göttlichen Schrift die Wahrheit finden kann, die er schon im Geist empfangen (mit der Vernunft aufgenommen) hat.

Deshalb kann man sich auch leichter gegen Ungläubige verteidigen: Falls nämlich etwas, das jeder aus der Heiligen Schrift begreifen /erkennen will, sich als falsch erweist, dann könnte man auf ihren anderen Sinn zurückgreifen. Daher ist es nicht unglaubwürdig, dass Moses und den anderen Verfassern der Heiligen Schrift durch göttliche Fügung zugestanden worden ist, die unterschiedlichen Wahrheiten, die die Menschen erfassen können, selbst zu erkennen und sie in einer Buchstabenfolge anzuordnen. So hat jeder beliebige Sinn der Wahrheiten seinen eigenen Autor. Wenn daher die, die die Hl.Schrift auslegen, irgendwelche Wahrheiten, die ihr Autor selbst nicht versteht, mit dem Buchstaben der Hl.Schrift verknüpfen, dann gibt es keinen Zweifel, dass der Hl.Geist schon Kenntnis davon hat – der Hl.Geist, der der maßgebliche Urheber der göttlichen Schrift ist. Daher ist jede Wahrheit, die ohne Änderung des buchstäblichen Sinnes mit der göttlichen Schrift verknüpft werden kann, auch ihr Sinn.«

[Frau Dr. Veronika Brandstätter war so freundlich, meine eigene unbeholfene Übersetzung zu verbessern]

Ne aliquis ita Scripturam ad unum sensum cogere velit, quod alios sensus qui in se veritatem continent, et possunt, salva circumstantia litterae, Scripturae aptari, penitus excludantur; hoc enim ad dignitatem divinae Scripturae pertinet, ut sub una littera multos sensus contineat, ut sic et diversis intellectibus hominum conveniat, ut unusquisque miretur se in divina Scriptura posse invenire veritatem quam mente conceperit; et per hoc etiam contra infideles facilius defendatur, dum si aliquid, quod quisque ex sacra Scriptura velit intelligere, falsum apparuerit, ad alium eius sensum possit haberi recursus. Unde non est incredibile, Moysi et aliis sacrae Scripturae auctoribus hoc divinitus esse concessum, ut diversa vera, quae homines possent intelligere, ipsi cognoscerent, et ea sub una serie litterae designarent, ut sic quilibet eorum sit sensus auctoris. Unde si etiam aliqua vera ab expositoribus sacrae Scripturae litterae aptentur, quae auctor non intelligit, non est dubium quin spiritus sanctus intellexerit, qui est principalis auctor divinae Scripturae. Unde omnis veritas quae, salva litterae circumstantia, potest divinae Scripturae aptari, est eius sensus.

(Quaestiones disputatae: De potentia; Quaestio IV Respondeo)

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