Ich habe einmal einen Vortrag gehalten, in dem ich behauptet habe, dass die Bibel das Internet erfunden hat – und zwar schon vor mehr zweitausend Jahren. Natürlich war das ironisch gemeint, aber die Sache hat einen wahren Kern. Wesentlich für das Surfen im Internet sind die »Hyperlinks«, die als Links abgekürzt einen im Nu von einem Ende der Welt zum anderen bringen. Die Bibel ist in diesem Sinne eine riesige Ansammlung von unzähligen Links, die Texte aus allen Teilen und Jahrhunderten miteinander verketten, dass es nur so seine Art hat. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen:
Seit vielen, vielen Jahren arbeite ich immer wieder gerne mit der Erzählung von Davids Ehebruch mit Batseba (2 Sam 11) – nicht nur weil die Geschichte genial erzählt ist, sondern weil sie von Matthäus auch mit dem Auftakt des Neuen Testamentes verbunden wurde (Mt 1,6). [Die ersten 17 Kapitel des Matthäus – und damit des Neuen Testamentes – sind übrigens kein Stammbaum. Matthäus beginnt sein Werk mit den Worten biblos genéseōs: das Buch Genesis von Jesus Christus ….]
Doch zurück zum Thema: wenn ich 2 Sam 11 in der Vorlesung/Firmstunde/Bibelrunde gelesen habe, dann habe ich bis heute eigentlich immer die Verse 18-24 ausgelassen. Da schildert Joab seinem Boten umständlich, wie er reagieren soll, wenn David ihm voll Zorn Vorhaltungen machen wird und erwähnt dabei das Beispiel Abimelechs. Doch als der Bote zu David kommt, ist keine Rede mehr von Abimelech und David bleibt vollkommen ruhig. Warum also diese umständliche Ausdrucksweise? Gestern habe ich zum ersten Mal verstanden, dass Joab diesen Verweis auf Abimelech eigentlich nicht seinem Boten oder David erzählt, sondern mir, dem Leser. Als ich die Erzählung über Abimelech nachschlug – sie steht in Richter 9 – fand ich unmittelbar davor im gleichen Kapitel die berühmte Jotam Fabel. Sie ist nach Martin Buber der königskritischste Text der gesamten Antike. Durch diesen Hyperlink macht der Schreiber klar, dass Mächtige immer in Gefahr stehen, so zu handeln wie David.
Ein weiterer Hyperlink der Erzählung führt dann im Kapitel 12 von 2 Sam zum Ps 51, in dessen Überschrift steht: »Ein Psalm Davids, als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte.« Psalm 51 ist einer der großen Bußpsalmen der kirchlichen Tradition. Damit steht auch dieser Link wieder in Bezug zu Matthäus 1, denn dort heißt es über Jesus, den Sohn Davids (Mt 1,1): »denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen«.
Natan hat David in eindrücklicher Weise klar gemacht, dass er durch sein Verbrechen das Wort JHWHs verachtet hat (2 Sam 12,9). Damit ist wohl das Zehnerwort gemeint, der Dekalog (Ex 20; Dtn 5). Denn gegen welches der zehn Worte hat David in diesem Fall nicht verstossen? Also wieder ein (Doppel)Link … So ergibt sich folgende Skizze:
Wieder einmal bestätigt sich, dass die biblischen Texte einen Leser voraussetzen, der die ganze Erzählung kennt – lectio continua ….