Abschied vom »Urtext«

Jahrzehntelang war mir die Vorstellung geläufig, dass hinter einer gängigen Bibelausgabe ein Urtext stehen müsse, der, in hebräischer, aramäischer oder griechischer Sprache verfasst die Grundlage aller Auslegung sei.  Dieser ursprüngliche Text konnte dann historisch-kritisch noch mal in ihm vorausliegende Traditionsstücke unterteilt werden, die sich der rekonstruktiven Arbeit der Textkritik erschliessen würden. Zwei Faktoren haben diese Sichtweise nachhaltig verunmöglicht: die Handschriftenfunde und die Erkenntnisse über die Arbeitsweise ihrer Schreiber.

Textkritisch ist zu sagen, dass es in der Antike eine ganze Reihe von unterschiedlichen Texttraditionen gab, die friedlich nebeneinander existierten. Der heutige Masoretische Text  ist nur eine dieser Varianten, allerdings ihre bedeutendste, da er am längsten und intensivsten gepflegt wurde. Ich habe bereits darauf verwiesen, dass die Textfunde von Qumram und die Traditionen der LXX sehr oft andere Varianten bewahrt haben, die teilweise eindeutig älter sind, als der heutige Masoretische Text.

Die zweite Beobachtung ist von ebenso großer Tragweite: hinter den biblischen Texten stehen keine Autoren im neuzeitlichen Verständnis – das ganz stark von Vorstellungen von Genialität, Originalität, Authentizität und Urheberrecht geprägt ist. Dementsprechend wurden weite Passagen der hebräischen Bibel einem (!) Jahwisten, Elohisten, Deuteronomisten usw. zugeschrieben. Das kann heute als bloße Projektion gelten.

Die biblischen Schreiber verstanden sich nicht als Autoren – sondern sie verschriftlichten göttliche Überlieferungen, die sie sammelten, kopierten, kommentierten und editierten. Die Texte wuchsen so über einen langen Zeitraum bis zu ihrer heutigen Form. By the way: der Jahwist, der sich zu den Zeiten meines Studiums noch größter Beliebtheit erfreute, ist in der Exegese weithin aufgegeben worden, der Elohist hat ohnehin schon immer geschwächelt – und hinter Priesterschrift und Deuteronomischer Theologie stehen sicher keine genialische Einzelgestalten, sondern weisheitlich geschulte Generationen von Schreibern.

Fazit: von keinem einzigen Buch der hebräischen Bibel haben wir so etwas wie ein »Original« oder einen »Urtext« – diese Vorstellung war den Schreibern der Antike vollkommen fremd (Jer 36,32). Dass es verschiedene Varianten von Texten gab, war lange Zeit kein Problem – erst die Rabbinen legten in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende ein verbindliches Konsonantenkontinuum vor. Die Kirchenväter von Origenes an kämpften mit den unterschiedlichen Lesarten, für die es keine definitive Lösung gab. Der Autorität der Texte tat das keinen Abbruch.

Literaturempfehlung:

Karel Van Der Toorn: Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible

Roland Barthes: The Death of the author (in diesem Band)

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