Meine jahrzehntelange Wahrnehmung und Deutung der Erzählung von Babel in Gen 11,1-9 ist nachhaltig verändert worden – ein paar Anmerkungen zur Relecture eines scheinbar zutiefst vertrauten Textes.
Pluralismus als Gottes Strafe für menschlichen Hochmut?
Mein bisheriges Verständnis der Erzählung war ganz auf den Aspekt des Turmes konzentriert. Weil der Mensch einer ist, der glaubt, sich mittels seiner Technik zu Gott erheben zu können, ist seine faktische Zerrissenheit und Gespaltenheit in zahlreiche Kulturen und Sprachen gleichsam eine beständige Mahnung und Warnung vor seinem Wahn, alles technisch lösen zu können. In meiner Rezeption war ich dabei völlig auf den wolkenkratzenden Turm konzentriert, wie er in dem berühmten Bild von Pieter Brueghel, das in meiner Stadt Wien im Kunsthistorischen Museum hängt, dargestellt ist.

Gegen dieses Verständnis lassen sich schwerwiegende Einwände geltend machen.
A: Der Turm steht nicht im Zentrum der Erzählung
Entscheidend ist nicht der Turm, der hier gebaut wird, sondern die Stadt. Am Ende der Erzählung wird nicht der Turmbau abgebrochen, sondern sie hörten auf, an der Stadt zu bauen (Gen 11,8 EÜ). Schon Philo von Alexandria berichtet, dass die Idee, ein Bauwerk bis zum Himmel zu bauen, Mitgliedern seiner jüdischen Community in Alexandria lächerlich vorkam.
B: Babel wird nicht gebaut, um den Himmel zu erreichen
Der eigentliche Sinn der geschilderten Bautätigkeit war nicht, den Himmel zu erreichen, sondern: wir wollen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht zerstreuen über die Fläche der ganzen Erde. (Gen 11, 4; Ü: Zunz) Es geht darum, sich einen Namen – hebräisch Schem – zu machen, um eine Gemeinschaft zusammenzuhalten.
C: Vielsprachigkeit beginnt in der biblischen Erzählung nicht mit Babel
Von der kanonischen Reihenfolge her gesehen, steht vor der Babel-Erzählung die legendäre Völkertafel von Gen 10. Und dort heißt es ausdrücklich, dass die (je nach Lesart Siebzig oder Zweiundsiebzig) Völker jedes nach seiner Sprache zu unterscheiden waren (Gen 10,5+20+31-32). Die Babel-Erzählung stellt innerbiblisch gesehen nicht Vielsprachigkeit her, sondern setzt sie voraus.
Zum historische Hintergrund
Der historische Hintergrund von Gen 11,1-9 ist exegetisch gesehen alles andere als unumstritten. Literaturgeschichtlich ist alles im Fluss, seitdem der Jahwist feierlich zu Grabe getragen wurde. Mit Konrad Schmid ordne ich den Text der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte zu. 1 Im Anschluss an Christoph Uehlinger hält Heinz-Günther Schöttler einen assyrischen Hintergrund für möglich, und zitiert dazu eine Inschrift Sargon II., die von »einem Mund« spricht, den der Großkönig von den unterworfenen Völkern verlangte. 2 Markus Witte wiederum sieht in der Erzählung eine Reaktion auf die Koine – gleichsam das Englisch des hellenistischen Zeitalters – was ich persönlich für zu spät halte. Wie auch immer: eine Reaktion dieser Erzählung auf die Großmachterfahrungen Israels – seien sie assyrisch – babylonisch – persisch oder gar hellenistisch erscheint wohl nicht unplausibel.
Einen Namen (Schem) machen
Das Schlüsselwort der Erzählung scheint mir Schem zu sein. Nicht nur wird direkt im Anschluss an unsere Erzählung die Geschlechterfolge Schems aufgelistet (Gen 11,10-32), in Gen 12 begegnen wir dann dem Nachkommen Schems, an dem alles Weitere hängt.
Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich die zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen (deinen Schem) groß machen. Ein Segen sollst du sein. (Gen 12,1-2 EÜ)
Fazit
Vom kanonischen Ablauf der Erzählungen her stellt Gott gegen die Versuche einer politischen Vereinheitlichung die ursprüngliche Vielfalt der Sprachen wieder her. Nicht Menschen, sondern ER macht einen Schem, der zum Segen für alle Völker wird. Damit ist auch die Pfingsterzählung in Apg 2 nicht die Aufhebung der Babel-Erzählung, denn Pfingsten bedeutet eben gerade nicht Rückkehr zu einer Sprache, sondern es heißt: sind nicht alle diese Redenden Galilaier? Und wie hören wir, jeder in unserer eigenen Sprache, in der wir geboren wurden? (Apg 2,7-8; Ü: Münchner Neues Testament)
Literatur:
George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. (Suhrkamp)
Heinz-Günther Schöttler: »Jeder in seiner Sprache« »Babel« und »Pfingsten« als Lob auf die kulturelle Vielfalt und Identität gelesen. (Bibel und Liturgie 1/2014 S. 22-40)
Irgendwo (=in einem Kommentar) habe ich gelesen, dass es ähnliche Erzählungen auch bei den Nachbarvölkern Israels gab. Der große Unterschied ist, dass sich die (heidnischen) Götter tatsächlich von dem Bauwerk bedroht fühlen, während Gott so groß ist, dass er herabsteigen muss, um überhaupt zu sehen, was die „Menschenkinder“ hier bauen (V5). Das ändert natürlich nichts an den Aussagen über die Sprachenvielfalt bzw. den „Schem“.