Ein Versuch, die Unterschiede zwischen Homer-Exegese und Bibelauslegung in der Antike zusammenzufassen. Ich sehe da vor allem zwei Punkte:
1. Die Art der Kritik
Obwohl Homer in der Antike eine geradezu kanonische Geltung besaß, wurde er doch gleichzeitig auf das heftigste kritisiert. Ein sehr altes Beispiel bietet ein Text-Fragment des Heraklit (um die Wende des 6. Jh. v. Chr.), wo es heißt:
»Homer verdiente aus den Preiswettkämpfen verwiesen und mit Ruten gestrichen zu werden.« (Fragment 42; Ü: Hermann Diels in: Werke der Vorsokratiker Band I) Der Grund für dieses harsche Urteil dürften die anstößigen Götterschilderungen der Ilias sein. Eine solche Kritik – für die es doch noch weitere gewichtige Zeugen wie Xenophanes und vor allem Platon gibt – ist mir aus dem Umkreis der antiken Bibelausleger nicht bekannt.
Natürlich hat ein Kelsos/Celsus die Heiligen Schriften der Juden und Christen in Grund und Boden kritisiert, aber er stand dezidiert außerhalb dieser Traditionen. Innerhalb des Griechentums aber wird Homer verherrlicht und verdammt.
Die einzige Ausnahme, die ich möglicherweise gefunden habe, findet sich bei Philo von Alexandria (ca. 15 BCE – 40 CE). In seinem Werk über die „Verwirrung der Sprachen“ spricht er den Vorwurf an, die himmelstürmenden Giganten aus der Odyssee (XI, 313-320) – die sogenannten Aloaden – seien in der Bibel durch die Erzählung vom Turmbau zu Babel plagiiert worden. Philo charakterisiert die so denkenden Personen wie folgt:
»Die nun, die unzufrieden sind mit der von den Vorfahren übernommenen Verfassung, erheben immer Tadel und Vorwurf gegen die Gesetze. Sie benützen diese [die Gesetze] und ähnliches gleichsam als Leiter zur Gottlosigkeit. Sie sind unfromm, indem sie die Behauptung proklamieren: „Noch jetzt sprecht ihr feierlich von den Anordnungen, als ob sie die Regeln der Wahrheit enthielten. Denn siehe, die von euch heilig genannten Bücher enthalten auch Mythen, über die zu Lachen ihr Anlass habt, wann immer ihr andere sie nacherzählen hört.“« (Philonis Alexandrini Opera quae supersunt Band II S. 229 f.; MÜ)
Spricht Philo hier von Mitgliedern seiner eigenen Community, die sich von der Tora verabschiedet hatten? Es wäre eine wohl rare Ausnahme.
2. Der Inhalt der Auslegung
Der von mir bereits besprochene Satz aus der Ilias »Ursprung der Götter ist Okeanos und Thetys die Mutter« 1 wird in einem Scholienkommentar 2 folgendermaßen erklärt:
»»Ursprung der Götter« – das bedeutet: Vater der Götter, weil einige der Naturforscher gesagt haben, dass das Wasser das erste Naturelement sei und aus ihm die restlichen drei kämen. Daher bezeichnete auch Pindar das Wasser als das Vorzüglichste (vorzüglichste Element). Mit Tethys meint er die Erde, weil sie gleichsam Amme und Ernährerin aller Dinge ist.« (»Scholia graeca in Homeri Iliadem« Hg. von Wilhelm Dindorf, Band II, S. 43, MÜ).
Wir würden heute sagen, dieser Text wird naturwissenschaftlich ausgelegt. Ein schönes Bild dazu findet sich im Scholienkommentar zur goldenen Kette aus Ilias, VIII, 5-27. Hier erstellt der Kommentator aus diesem bemerkenswerten Text eine Skizze des Aufbaus der Welt.
Fazit:
Wenn auch von der Auslegungstechnik her eine deutliche Ähnlichkeit erkennbar ist, so ergibt sich doch aus den großen inhaltlichen Unterschieden eine deutliche Differenz zwischen antiker Homerexegese und biblischer Auslegung.