Vor einigen Wochen sass ich im großen Saal des Wiener Musikvereins und hörte den Anfang von Josef Haydns (1732-1809) Oratorium »Die Schöpfung«. Die beeindruckende Chor-Passage »Und Gott sprach: Es werde Licht« ist allgemein bekannt – bemerkenswert ist, dass der biblische Kontext im Oratorium von den Erzengeln Raphael, Uriel und Gabriel gesprochen wird. Doch keine der biblischen Schöpfungserzählungen erwähnt Engel auch nur mit einem Wort. Ein Blick in das Libretto von Haydns Werk offenbart eine gewisse Verwandschaft zu Goethes Faust: Bei dessen »Prolog im Himmel« treten ebenfalls drei Erzengel auf, hier allerdings Raphael, Gabriel und Michael. Haydn wiederum dürfte sich an ein Werk angelehnt haben, mit dem ich mich hier noch häufiger beschäftigen muss: John Miltons (1608-1674) »Paradise Lost«, dass den »Sündenfall« des Menschen und die intensive Beteiligung der Engel daran schildert (deutsche Übersetzung hier).
Doch noch einmal: in Gen 1 und 2 wird das Wort »Engel« nicht ein einziges Mal erwähnt! Und trotzdem sind sich schon die ältesten Ausleger einig, dass die Erschaffung der Engel hier mit gemeint sein musste. Wie kann das sein?
Der erste Anhaltspunkt war der Vers an der Schnittstelle zwischen erster und zweiter Schöpfungserzählung: »So wurden Himmel und Erde vollendet und ihr ganzes Gefüge« (Gen 2,1 Einheitsübersetzung). Im Hebräischen steht für das letzte Wort tsābā, die Pluralform dieses Wortes ist geläufiger: tsǝbāōt, was der Deutschsprachige Leser als Zebaoth kennt. Gemeint ist also: »Himmel und Erde und ihr ganzes Heer«. Natürlich kann damit auch das Sternenheer gemeint sein, aber den alten Auslegern fiel auf, dass der gleiche Ausdruck in 1 Kön 22,19 für die Engel gebraucht wird.
Dazu kam, dass Psalm 104 im Zuge der Beschreibung der schöpferischen Macht Gottes formuliert: »Du machst Dir die Winde zu Boten, und lodernde Feuer zu deinen Dienern.« (Ps 104,4). Das Hebräische Wort für Bote, malǝāẖ, hat auch die Bedeutung »Engel«. (Auf diesen Psalmvers beruft sich beispielsweise Pirquei de Rabbi Eliezer 4, um die Frage der Erschaffung der Engel zu deuten.) In diesem Sinn verstand man dann auch Neh 9,6 und Sir 16,26-28.
Augustinus argumentierte folgendermaßen: »Wo die Heilige Schrift von der Erschaffung der Welt spricht, teilt sie nicht unzweideutig mit, ob und wann die Engel geschaffen sind. (…) Anderswo jedoch bezeugt es die Schrift mit den klarsten Worten.« (Gottesstaat, XI,9) Er beruft sich u.a. auf Psalm 148: »Lobt ihn, all seine Engel (malǝāẖ), lobt ihn, all seine Scharen (tsābā). (…) Loben sollen sie den Namen JHWHs, denn ER gebot, und sie waren erschaffen.« (Ps 148,2+5). Im weiteren Verlauf des genannten Kapitels deutet Augustinus das Wort »Es werde Licht – und es ward Licht« auf die Engel, denn dieses Licht des ersten Tages erstrahlt ja bekanntlich vor Sonne, Mond und Sternen, die in Gen 1 erst am vierten Tag geschaffen wurden.
Dass die Lehre von der Erschaffung der Engel so wichtig wurde, hängt mit der Erzählung vom Fall des Menschen zusammen. Wir haben schon gesehen, wie hier einem gefallenen Engel ein großer Anteil zugeschrieben wurde. (Zum »Engelfall« demnächst mehr). Der Katechismus der Katholischen Kirche spricht sogar von einer Glaubenswahrheit und fasst den bisherigen Befund folgendermaßen zusammen: »Dass es geistige, körperlose Wesen gibt, die von der Heiligen Schrift für gewöhnlich „Engel“ genannt werden, ist eine Glaubenswahrheit. Das bezeugt die Schrift ebenso klar wie die Einmütigkeit der Überlieferung.« (328)
Nachtrag 1: Warum übersetzt die EÜ in Gen 2,1 das himmlische Heer mit »Gefüge«? Sie ist wieder einmal der LXX gefolgt, die hier kosmos liest, was mit »Ordnung«, »Geordnet sein«, oder »Schmuck« übersetzt werden kann. Vermutlich wurde sie aber auch durch Hieronymus zu dieser Lesart ermutigt, denn der gibt tsābā als ornatus wieder …
Nachtrag 2: Voltaire lässt in seinem Candide den venezianischen Edelmann Pococurante (!) einen fürchterlichen Verriss von Miltons »Paradise lost« vornehmen … (Kapitel 25)