John Milton propagierte in seinem Klassiker »Paradise lost« eine Bibelauslegung frei von menschlicher Tradition. Was ist von diesem Ansatz zu halten? Ich habe bereits einmal auf dieses Werk hingewiesen und möchte nun genauer auf seinen Ansatz eingehen. Gegen Ende des des 12. Buches lässt Milton den Erzengel Michael über die nachapostolische Zeit sagen:
Die Wahrheit ist also nur in so der Bibel enthalten, dass jede Auslegungstradition gegen das Verständnis der Heiligen Schrift im Geist verstößt, eigentlich sogar Aberglauben ist. Natürlich hat das ganze bei Milton eine klar anti-katholische Stoßrichtung.
Was mich verblüfft, ist allerdings der Umstand, dass Milton in seinem Werk permanent nicht biblische Traditionen verwendet. Über den nicht in der Bibel vorkommenden Erzengel Uriel habe ich schon gesprochen, genauso über die rätselhafte Zurückweisung von Kains Opfer durch Gott. Milton führt im 11. Buch dazu aus (er beginnt mit Abels Opfer):
His Offring soon propitious Fire from Heav’n
Consum’d with nimble glance, and grateful steame;
The others not, for his was not sincere. (11, 441-443)
Diese Sicht ist vollkommen projektiv und extrem traditionell. In der Bibel steht nämlich kein Wort von Miltons Schilderung – aber alles findet sich in der Tradition. Ich schlage daher vor, Milton als den Kronzeugen einer Auslegungstradition zu sehen, die von sich behauptet, die Bibel ohne Tradition zu lesen.
Weiterführende Literatur: Lawrence F. Rhu: Paradise Lost and traditional exegesis (in diesem Band)