Ich hatte hier die hochproblematischen Verse aus 2 Kön 2 vorgestellt, die davon erzählen, wie auf den Zuruf des Propheten Elischa zweiundvierzig Kinder von zwei Bärinnen zerrissen werden. Was tun mit diesem Text? Nun, vor allem schaue ich ihn mir einmal genauer an. Dabei folge ich einigen Regeln:
Erste Regel: präzises Übersetzen
Gerade bei problematischen Texten ist es besonders wichtig, sicher zu stellen, dass sie korrekt übersetzt worden sind. Hier die zu untersuchenden Verse in meiner Übersetzung:
»Und er stieg hinauf von da (nach) Bet-El und er, beim Hinaufsteigen, auf dem Weg, da waren kleine Knaben (na’ar), sie zogen heraus aus der der Stadt und verspotteten ihn und sagten zu ihm: Steig hinauf, Kahlkopf! Steig hinauf, Kahlkopf!
Da wandte er sich hinter sich und sah sie und verfluchte sie im Namen des HERRN. Da brachen hervor zwei Bärinnen aus dem Wald und zerrissen von ihnen zweiundvierzig Knaben (jælæd).
Und er ging von dort zum Berg Karmel und von dort kehrte er zurück (nach) Samaria.«
Auffällig: in Vers 24 kommt insgesamt vier Mal das Verb hinaufsteigen vor, dass im Hebräischen eine starke kultische Bedeutung hat; es wird gerne verwendet, wenn es um das Hinaufsteigen zu einem Heiligtum geht, vor allem zum Tempel nach Jerusalem (Ex 34,24; 1 Sam 1,3 und 10,3; 2 Sam 24,18; 1 Kön 9,24; 2 Kön 12,11; Jer 26,10). 1 Auch der Kahlkopf hat eine kultische Bedeutung: die Wortwurzel krch bezeichnet das absichtliche Scheren der Haare aus Trauer (Mi 1,16), was die Tora den Priestern am Heiligtum ausdrücklich verbietet (Lev 21,5).
Die in Vers 25 gebrauchte Wendung hinter sich sehen ist in der hebräischen Bibel immer mit Tod und/oder Verderben verbunden (Jos 8,20; Ri 20,40; 2 Sam 1,7 und 2,20) Die Verbindung von kleinen Knaben (na’ar) und Knaben (jælæd) macht deutlich, dass es sich wirklich um kleine Kinder handelt, und nicht um Jugendliche.
Zweite Regel: Kontextualisieren
Wichtig: Dieser Text steht nicht alleine, er ist durch vielfältige Bezüge mit anderen biblischen Texten verknüpft. Ohne diese Verknüpfung droht die ursprüngliche Aussageabsicht verloren zu gehen. Ein paar Beobachtungen dazu:
Im Zusammenhang mit der Himmelfahrt seines Meisters Elija (2 Kön 2,1-12) wird erzählt, dass Elija mit Elisa durch den Jordan zieht, der sich vor ihm spaltet. Diese Erzählung ist natürlich mit Ex 14 (Durchzug durch das Schilfmeer) und noch mehr mit Jos 3 + 4 (Durchzug des Volkes durch den Jordan) verlinkt. So wie Josua Mose nachfolgte, folgte Elischa Elija nach, indem er ebenfalls trockenen Fußes durch den Jordan schreitet (2 Kön 2, 14).
Doch die Parallelen mit Josua gehen noch weiter: kurz vor unserer Episode macht Elischa den Fluch rückgängig, den Josua über die Stadt Jericho verhängt hatte (Jos 6,26). Josua belegte denjenigen, der Jericho wieder aufbaute mit dem Tod seiner Kinder; Elischa sorgte für das Ende der Fehlgeburten in Jericho (2 Kön 2,21-22), er ermöglicht den Kindern dort das Leben.
Wichtig sind außerdem die Orte, die genannt werden: Bet-El ist im Buch der Könige Synonym für kultische Sünde. Dass Jerobeam das Volk »verführte« in Bet-El, einem uralten JHWH-Heiligtum zu opfern, damit es nicht nach Jesusalem hinaufsteigt (1 Kön 12,27+28!), ist für die deuteronomistische Theologie, die die Königsbücher stark geprägt hat, das Schlimmste überhaupt: Das Deuteronomium verlangt die absolute Kultzentralisation (Dtn 12). Dass Elischa am Ende der Erzählung zum Berg Karmel geht, ist auch kein Zufall. Dort hatte Elija das Volk dazu gebracht, sich für JHWH zu entscheiden (1 Kön 18).
Deutungsversuch
Aus diesen Befunden ergibt sich für mich folgende Deutung: Die Erzählung von den Kindern in Bet-El ist eingebettet in die komplexe Struktur des deuteronomischen Geschichtsdenkens. Sie besagt: wenn Israel JHWH allein nachfolgt und ihm allein in Jerusalem opfert, dann wird das Volk Segen empfangen. Wenn nicht, dann verliert es seine Zukunft: nämlich seine Kinder.
Dass die deuternomische Theologie dabei nicht vor Gewalterzählungen zurückschreckt, habe ich bereits hier gezeigt. Der Grund dafür dürfte die extreme Gewalterfahrung gewesen sein, die Israel durch die Assyrer und Babylonier erlitten hat. Die Erzählung hat also einen historischen Kern – ist aber dennoch keine Reportage – sondern gedeutete Geschichte.