Was bedeutet der Namen Morijah?

Der Namen Morijah findet sich das erste Mal in der hebräischen Bibel in Gen 22,2, als Abraham von Gott den Auftrag empfängt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Die Frage, welche Bedeutung dieser Namen hat, beschäftigt biblisch Interessierte bis heute.

Ich habe hier gezeigt, wie die klassische rabbinische Deutung des Namens ausgesehen hat, die ein Spiel mit Assoziationen und Anklängen ist, die über das Hebräische selbst hinausgehen. Hier jetzt ein kurzer Überblick, welche Deutungsversuche es noch gab. (Das Meiste dazu hat bereits Abraham Geiger 1857 in seiner „Urschrift und Übersetzungen der Bibel“ auf S. 278-279 zusammengestellt.)

Samaritanischer Pentateuch

Eine eigene Tradition zu diesem Namen findet sich im Samaritanischen Pentateuch. In der Fassung der Ausgabe von Benjamin Blayney (Oxford 1790) in Hebräischer Quadratschrift sieht der Text so aus:

ויאמר קח נא את בנך את יחידאך אשר אהבת את יצחק ולך לך אל ארץ המוראה והעלהו שם עלה על אחד ההרים אשר אמר אליך׃

„Nimm doch deinen Sohn, deinen einmaligen, den du liebst, den Isaak und geh für dich in ein Land hammorah und bring ihn dort als Brandopfer dar, auf einem der Berge, die ich Dir sagen werde.“

Ein Blick in die Aufstellung der verwerteten Handschriften macht deutlich, dass Blayney die Handschrift Ms. Dublin, Chester Beatty Library 751 von 1225 nicht zur Verfügung stand, die die wesentliche Grundlage der aktuellen Editio Critica Maior von Stefan Schorch (2021) bildet. Der Text liest sich dort (S. 147) so:

ויאמר קח נא את בנך את יחידך אשר אהבת את יצחק ולך לך אל ארץ המוראה והעלהו שם עלה על אחד ההרים אשר אמר אליך

„Und er sagte: Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Isaak und geh für dich in ein Land hammorah und bring ihn dort als Brandopfer dar, auf einem der Berge, den ich Dir sagen werde.“

Was bedeutet hammorah? Der Ausdruck scheint im Zusammenhang mit Gen 12,6 zu stehen:

ויעבר אברם בארץ עד מקום שׁכם עד אלון מורה והכנעני אז בארץ׃

„Und Abram ging durch das Land bis zum Ort Schechem, bis zum großen Baum moreh. Und die Kanaaniter waren damals im Land.“ (Gen 12,6; MÜ)

Der große Baum wird in gängigen Bibelübersetzungen als Terebinthe verdeutscht.1 Wenn Luther, Zürcher und REÜ den Baum in Zusammenhang mit einem Orakel bringen, deuten sie moreh offensichtlich als Ableitung von Part. Hof. von ראה – jemanden etwas sehen lassen. Für den Samaritanus ist allerdings die Nähe zum Ort Schechem entscheidend. In deutschen Bibelübersetzungen Sichem genannt, liegt er „ca. 50 km nördlich von Jerusalem, in der Senke zwischen den Bergen Garizim (im Süden) und Ebal (im Norden).“2 Durch die Nähe zum Garazim konnte die Tradition, dass der Ort der Bindung Isaaks zugleich der Ort des Tempels war, mit dem samaritanischen Zentralheiligtum verbunden werden.3

Eine weitere Antwort gibt vielleicht Julius Heinrich Petermann in seiner Ausgabe des Samaritanus von 1872, die sich auf eine Handschrift aus Nablus stützt. Sie gibt Gen 22,2 in Samaritanischer Schrift so wieder:

Petermann Pentateuchus Samaritanus (1872) via archive.org
Petermann Pentateuchus Samaritanus (1872) via archive.org

Carl Faulmann hat 1880 mit Hilfe der k.k. Hof-Bibliothek in Wien diese Übertragung des Samaritanischen Alphabets erstellt:

Carl Faulmann: Das Buch der Schrift (1880) S. 79 via archive.org
Carl Faulmann: Das Buch der Schrift (1880) S. 79 via archive.org

So ergibt sich folgender Text:

ואמר סב ני ית ברך ית יחידך דרחמת ית יצחק ואזל לך לארע חזיביה ואסקה תמן עלה על אחד טוריה דאימר לך׃

„Und er sprach: Nimm bitte deinen Sohn, den einzigen, den du liebst, den Isaak und geh für dich in das Land der Vision und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich Dir sagen werde.“ Es handelt sich bei diesem aramäischen Text nicht um den Text des samaritanischen Pentateuch, sondern um das Targum zu diesem Text. Wie kommt das samaritanische Targum dazu, wie nach dem Zeugnis des Hieronymus auch Symmachus, vom „Berg der Vision“ zu reden? Den Grund habe ich oben schon genannt: מורה wird vom Verb sehen (ראה) abgeleitet. Auch Hieronymus ist ihr in der Vulgata gefolgt, wenn er in das Land morijah als in terram visionis übersetzt.

Geiger meinte dazu in seiner Urschrift:

Mag jedoch diese oder eine andere Etymologie die richtige sein, so ist so viel sicher, dass die letzte Hälfte des Wortes den Gottesnamen bezeichnet.4

Für Geiger ist das jah am Ende des Wortes ein theophorer Bestandteil des Namens.

Ableitung vom Namen „Amoriter“

Die Septuaginta gibt den Ausdruck Berg hammorijah aus 2 Chr 3,1 mit ἐν ὄρει τοῦ ᾿Αμωρία wieder – auf dem Berg des Amoria – gemeint ist das Land der Amoriter. Payne Smith hat darauf aufmerksam gemacht, dass „der Berg Moriah in der Peschitta immer so wiedergegeben wird und geradezu als Berg ämori (=Berg des Amoriters) zu lesen ist“.5

Friedrich Delitzsch hat diese Deutung ebenfalls vertreten und das Land morijah als „gedankenlose Mißdeutung“ von Land des Amoriters bezeichnet.6

Der Versuch von Hermann Gunkel

Einen anderen Weg ging Hermann Gunkel (1862-1932), der in seinem Genesis-Kommentar die Bedeutung des Namens morijah von Gen 22,14 her deuten wollte.

ויקרא אברהם שׁם־המקום ההוא יהוה ׀ יראה אשׁר יאמר היום בהר יהוה יראה׃

„Und Abraham rief den Namen dieses Ortes ‚der HERR wird sehen‘, so dass man heute [noch] sagt: ‚auf dem Berg wird der HERR sehen‘.“ (Gen 22,14; MÜ)

Gunkel ging davon aus, dass der eigentliche Namen des Ortes verloren gegangen sei und Gott in diesem Kontext seiner Erscheinung ursprünglich auch nicht JHWH sondern Elohim geheißen habe. Daher müsse der ursprüngliche Namen mit dem theophoren Element El gebildet worden sein, was ihn zu der Aussage führte:

Gen 22 ist die Kultussage von Jeru’el.7

Der ursprüngliche „Sitz im Leben“ sei also eine Ätiologie eines mittlerweile nicht mehr eruierbaren Kultortes gewesen, in der es um die Ablösung der Kinderopfer durch Tieropfer im alten Israel gegangen sei – eine Deutung, die man heute noch häufig finden kann, und die aus mehreren Gründen sicher falsch ist:

Nun sieht sich aber die Deutung von Gen 22 als ätiologische Sage einigen gravierenden Schwierigkeiten gegenüber: Zum einen ordnet in der elohistischen Geschichte Gott selber das Opfer an, auch wenn er es dann durch ein Tieropfer ersetzt. Das Ziel, das Gottesbild zu entlasten, vermag diese Deutung damit nicht zu leisten: Ein Gott, der einem alten Vater befiehlt, seinen einzigen Sohn zu schlachten, ist nicht weniger grausam, selbst wenn er schließlich die Schlachtung verhindert. Zum anderen findet sich im Text kein einziger Hinweis darauf, daß damit ätiologisch eine neue Kultpraxis eingeführt und der Brauch eines Kinderopfers durch ein Tieropfer ersetzt werden soll.8

Dazu kommt, dass die von Gunkel vorausgesetzte Quellenscheidung und hier besonders der angebliche Elohist als eigene Pentateuchquelle als hinfällig zu betrachten sind.

Fazit

Eine befriedigende und allgemein überzeugende Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Ausdrucks morijah ist bis heute nicht gelungen. Möglicherweise ist das keine Schwäche dieses Textes, sondern Absicht seiner uns unbekannten Schreiber, die mit der Offenheit des Begriffs die Ausleger zu weiteren Überlegungen und Deutungen anregen
wollten.

  1. So Elberfelder („Terebinthe More“), Schlachter („Terebinthe Mores“), Zürcher („Orakelterebinthe“). Luther 2017 hat „Eiche More“, die REÜ „Orakeleiche“. Zum Stichwort Terebinthe siehe diesen Lexikon-Eintrag.↩︎
  2. Herders Neues Bibellexikon (2008) S. 509. Der Eintrag führt weiter zu der Stadt aus: „In hell. Zeit wurde sie ein Zentrum der Samariter. Auf dem Garizim wurde bzw. wird das samaritische Pascha-Lamm geschlachtet. In der Nähe befindet sich heute das arabisch geprägte Nablus.“ (ebenda)↩︎
  3. Vgl. Joh 4,19 ff.!↩︎
  4. S. 278 a.a.o.↩︎
  5. Payne Smith: Thesaurus Syriacus (Oxford 1879) I, 228.↩︎
  6. Friedrich Delitzsch: Die Lese- und Schreibfehler im Alten Testament (Berlin und Leipzig 1920) S. 21.↩︎
  7. Hermann Gunkel: Handkommentar zum Alten Testament: Genesis (1902) S. 213↩︎
  8. Irmtraud Fischer: Möglichkeiten und Grenzen historisch-kritischer Exegese: Die »Opferung« der beiden Söhne Abrahams Gen 21 und Gen 22 im Kontext. (1997) S. 19-20.↩︎

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