Was dem modernen Leser häufig nicht bewusst ist: die antiken Texte wurden ohne Satzzeichen überliefert. Das kann – gerade bei längeren Texten – zu einer ganz eigenen Herausforderung werden. Denn es macht sinngemäß einen großen Unterschied, wo ein Übersetzer in einem solchen Satz eine Zäsur setzt. Ich will das an einem außergewöhnlich oft im Neuen Testament zitierten Jesaja-Wort verdeutlichen. Jes 40,3 wird von der Einheitsübersetzung folgendermaßen verdeutscht: »Eine Stimme ruft: / Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße / für unseren Gott!« Nach dieser Übersetzung ruft die Stimme also dazu auf, etwas in der Wüste zu tun. Vom Kontext her geschieht die Verkündigung dieser Stimme wohl in Jerusalem.
Offensichtlich hat diese Aussage, in der Wüste den Weg JHWHs zu bahnen, im Selbstverständnis der Gemeinschaft von Qumran eine wichtige Rolle gespielt: ihre Gemeinderegel beruft sich ausdrücklich auf dieses Jesaja Wort (1QS VIII). Doch die hebräische Konsonantenfolge wurde auch anders gelesen und verstanden.
Die LXX übersetzt nämlich: »Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade die Straßen unseres Gottes!« Hier ertönt die Stimme in der Wüste – nicht in Jerusalem – und wurde damit zum Kronzeugen der neutestamentlichen Erzählungen über Johannes den Täufer – der mit dieser Stimme in der Wüste identifiziert wurde. Alle vier Evangelien zitieren ausdrücklich in diesem Zusammenhang Jes 40,3 LXX (vgl. Mk 1,3; Mt 3,1; Lk 3,4; Joh 1,23). Und immer wird von der Stimme eines Rufenden in der Wüste gesprochen.
Meiner Meinung nach ist die Lesart, wie etwa Qumran sie verstanden hat, ursprünglicher. Dafür spricht schon der »Parallelismus membrorum« dieses Prophetenwortes, wenn man so will, die Grundform der hebräischen Lyrik, die vielleicht am ehesten mit dem Reim im Deutschen verglichen werden kann. Die BHS ordnet den Vers deshalb im hebräischen Schriftbild so an:
»Stimme eines Rufenden
In der Wüste bereitet einen Weg dem HERRN
ebnet in der Steppe eine Bahn für unseren Gott.«
Insgesamt haben wir es also mit einer mehrfachen aktualisierenden Auslegung des Prophetenwortes zu tun: das ursprünglich von (Deutero) Jesaja gesprochene Trostwort an die Verbannten in der Babylonischen Gefangenschaft wird Jahrhunderte später von den Mitgliedern der Qumran Gemeinschaft wieder auf gegriffen, um den Sinn ihreres Lebens in der Wüste zu beschreiben. Danach wird das Wort von den Verfassern der Evangelien in einer weiteren Aktualisierung auf den Täufer hin ausgelegt, der in der Wüste wirkte. Diese Aktualisierung ist eine Notwendigkeit, wenn man davon überzeugt ist, dass das biblischen Gotteswortes für jede Generation gilt.
Nachtrag: mir bleibt schleierhaft, warum die EÜ das (auch im Hebräischen eindeutige) Partizip aus dem Vers statt richtig als »Stimme eines Rufenden« mit »eine Stimme ruft« übersetzt. Weder der masoretische Text, noch LXX oder Vulgata (vox clamantis) geben diese »Übersetzung« her.