Der unsterbliche Henoch

Eine sehr bemerkenswerte Gestalt aus der Tora ist Henoch, der in der traditionellen Bibelauslegung ein ungeahntes Nachleben erreichte. Dabei kann man sein kurzes Auftauchen in der Genesis mit James L. Kugel durchaus als »Cameo-Auftritt« bezeichnen – aber dessen Folgen reichen bis weit in das Neue Testament und tief in die christliche Theologie hinein.

 Die hebräische Bibel äußert sich relativ knapp zu Henoch: »Und Chanoch [=Enoch] lebte fünfundsechzig Jahre und zeugte Metuschelach. Und Chanoch wandelte mit Gott, nachdem er gezeugt hatte den Metuschelach, dreihundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Und es waren alle Tage des Chanoch dreihundertundfünfundsechzig Jahre. Und Chanoch wandelte mit Gott, und er war nicht mehr, denn Gott hatte ihn genommen.« (Gen 5,21-24 – Zunz).

Den antiken Auslegern fiel auf, dass die Tora zweimal hintereinander sagte, dass Enoch mit Gott wandelte. Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Tora keine überflüssigen Informationen wiedergibt, zogen sie aus dieser Beobachtung den Schluss einer besonderen Vertrautheit Enochs mit Gott. Aber was bedeutete der rätselhafte Satz: »er war nicht mehr, denn Gott hatte ihn genommen«? Der hebräische Ausdruck ki lakach ōtō ælohim ist alles andere als eindeutig

Doch bereits die Septuaginta kannte eine entsprechende Deutung: sie übersetzt Gen 5,24 mit »Und Enoch gefiel Gott und er war unauffindbar, weil Gott ihn [an einen anderen Ort] versetzt hatte.« Dieser Ort, an den Enoch entrückt wurde, konnte eigentlich nur der Himmel sein. Damit musste Enoch nicht sterben, sondern wurde lebend in den Himmel aufgenommen. In Jesus Sirach heißt es: »Kaum einer auf Erden kommt Henoch gleich, / darum wurde er auch lebend entrückt«. (Jesus Sirach 49,14 EÜ) Diese Vorstellung teilt auch der Verfasser des Hebräerbriefes: »Aufgrund des Glaubens wurde Henoch entrückt und musste nicht sterben; er wurde nicht mehr gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte; vor der Entrückung erhielt er das Zeugnis, dass er Gott gefiel.« (Hebr 11,5 EÜ)

Aber was tat Henoch, nachdem er in den Himmel entrückt wurde? Irgendeinen Sinn musste seine Entrückung ja haben, außer ihn vielleicht vor der Sünde seiner Zeitgenossen zu bewahren (vgl. Weish 4,9-11). So bildete sich die Vorstellung, dass Henoch im Himmel Zeuge geheimnisvoller Vorgänge wurde, die er als Schreiber festhielt. Der Judasbrief zitiert sogar aus einer solchen Schrift (Jud 14-15)!

Ich werde noch zeigen, dass diese auf Henoch zurückgeführten Bücher bei den Kirchenvätern einen tiefen Eindruck hinterließen – doch diese »christliche Karriere« des Henoch führte zu einer deutlichen Abgrenzung seitens des rabbinischen Judentums. Im Talmud wird Henoch gar nicht erwähnt, und im großen Midrasch Kommentar zum Buch Genesis heißt es:

»Die minim [Häretiker] fragten den Rabbi Abuhu: Wir finden bei Henoch nicht das Wort  mitah [Tod, Leichnam], es steht vielmehr das Wort lakach [hinwegnehmen] und so auch 2 Kön 2,5 [dort wird das gleiche Wort  lakach im Zusammenhang mit der Entrückung Elijas gebraucht]. Rabbi Abuhu entgegnete: Wenn ihr auf das Wort lakach einen solchen Nachdruck legt, so will ich euch dasselbe auch anderswo nachweisen: Ez 24, 16 heißt es:  Siehe, ich nehme [lakach] von dir die Kostbarkeiten deiner Augen. Diese Antwort des Rabbi Abuhu erklärte Rabbi Tanhuma für treffend.

Eine Matrone fragte den Rabbi Jose: Wir finden bei Enoch nicht das Wort mitah  [Tod]. Du hättest Recht, gab er ihr zu Antwort, wenn weiter nichts stünde als: Enoch wandelte mit Gott usw. Da es aber heißt, er war nicht mehr, denn Gott hatte ihn hinweggenommen, so folgt daraus, dass er ihn sterben ließ.« (Midrasch Bereschit Rabba, Parascha 25, zu Gen 25,4; Übersetzung August Wünsche).

Für mich ist diese Argumentation ein Beleg für die große Popularität der Vorstellung von der Aufnahme des Henoch in den Himmel. Bemerkenswert ist, wie weit die Auslegung des Ausdrucks lakach die antiken Bibel-Interpreten geführt hat – hin zu Vorstellungen, die bis heute weit verbreitet sind. Dazu demnächst mehr.

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