Was ist hier zu gross: Die Sünde oder ihre Bestrafung?

In diesem Beitrag geht es um die Übersetzung von Gen 4,13.
Luther 2017 übersetzt den Vers so:

Kain aber sprach zu dem HERRN:
Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.

Im Gegensatz dazu bietet die revidierte Einheitsübersetzung:

Kain antwortete dem HERRN:
Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte.

Die Elberfelder räumt in einer Fußnote neben der „Strafe“ auch die „Schuld“ als Übersetzungsmöglichkeit ein. Hat sich der Mörder vom Anfang an – also Kain – dem HERRN gegenüber als schuldig bekannt, oder beschwert er sich vielmehr über seine Bestrafung?

Der Hebräische Text

Der masoretische Text von Gen 4,13 liest sich so:

ויאמר קין אל־יהוה גדול עוני מנשׂא׃

Der fragliche Ausdruck ist עוני(avoni) und mich interessiert, wie er hier angemessen zu übersetzen ist. Textkritisch gibt es nichts auszusetzen, in den Handschriften vom Toten Meer ist der Vers nicht enthalten. Der Samaritanus bietet folgende Lesart:

Gen 4,13 im Samaritanus
Gen 4,13 im Samaritanus

Ich transkribiere das so:ואמר קין ליהוה רב עובי ממסבל

Und es sprach Ken zum HERRN:
Zu groß ist meine Schuld, um (sie) zu ertragen. (MÜ)

Um einen weiteren sehr alten Zeugen aufzurufen, hier die Fassung der Septuaginta:

καὶ εἶπεν Καιν πρὸς τὸν κύριον Μείζων ἡ αἰτία μου τοῦ ἀφεθῆναί με·

Und Kain sprach zum Herrn:
Zu groß ist meine Schuld, dass ich freigesprochen werden kann. (MÜ)

Auch diese Version unterstützt also die Übersetzung von avoni als meine Sünde bzw. meine Schuld. Was also tun? Dem Ratschlag des Hieronymus an Augustinus folgend: sicubi dubitas, Hebraeos interroga (Ep. CXII, 20) – „wenn du irgendwo Zweifel hast, frage die Hebräisch Sprechenden“ werfe ich erst einmal einen Blick in die zweite Rabbinerbibel mit ihren drei Interpretations-Modulen Targum, Raschi und Ibn-Ezra.

Gen 4,13 in der zweiten Rabbinerbibel
Gen 4,13 in der zweiten Rabbinerbibel

Targum

Das Targum Onkelos gibt Gen 4,13 so wieder:

וַאֲמַר קַיִן קֳדָם יְיָ סַגִּי חוֹבִי מִלְּמִשְׁבָּק

Und es sprach Kain vor dem HERRN:
Zu groß geworden ist meine Sünde, um vergeben zu werden. (MÜ)

Raschi

Raschi kommentiert unseren Vers folgendermaßen:

עוני מנשוא. בִּתְמִיהָ, אַתָּה טוֹעֵן עֶלְיוֹנִים וְתַחְתּוֹנִים, וַעֲוֹנִי אִי אֶפְשָׁר לִטְעֹן? (בראשית רבה)

Avoni minnso – [das ist] mit Erstaunen [gesagt]: DU bist der, der sich die himmlischen und die irdischen Kreaturen auflädt, und es ist [dir] nicht möglich, [dir] meine avon aufzuladen? (Bereschit Rabba).

Im Anschluß an den Midrasch interpretiert Raschi avoni als meine Sünde bzw. meine Schuld. Dabei wird עון avon von ihm mit dem Verb טעןsich aufladen, (er)tragen interpretiert. Im großen Midrasch zum Buch Genesis heißt es:

וַיֹּאמֶר קַיִן אֶל ה‘ גָּדוֹל עֲוֹנִי מִנְּשׂא (בראשית ד, יג), לָעֶלְיוֹנִים וְתַחְתּוֹנִים אַתָּה סוֹבֵל, וּלְפִשְׁעִי אֵין אַתָּה סוֹבֵל. דָּבָר אַחֵר, גָּדוֹל עֲוֹנִי מִשֶּׁל אַבָּא, אַבָּא עַל מִצְוָה קַלָּה עָבַר וְנִטְרַד מִתּוֹךְ גַּן עֵדֶן, זוֹ שֶׁהִיא עֲבֵרָה חֲמוּרָה שְׁפִיכַת דָּמִים עַל אַחַת כַּמָּה וְכַמָּה גָּדוֹל עֲוֹנִי

Da sprach Kain zum HERRN: Zu groß ist meine avon, um sie zu ertragen (Gen 4,13). [Diese Aussage Kains bedeutet:] Die himmlischen und die irdischen Kreaturen trägst DU als Last, aber mit meinen Übertretungen belastest DU dich nicht? Eine andere Deutung: Größer ist meine avon als die des Vaters [= Adam]. Der Vater übertrat ein leichtes Gebot und wurde aus dem Garten Eden verbannt. Diese (avon), weil sie eine schwere Übertretung ist, [nämlich das] Vergießen von Blut, ist um so mehr ein Grund für [die Aussage]: [zu] groß ist meine avon.

Auch der Midrasch fasst avon als Sünde bzw. Übertretung auf, interpretiert die Aussage aber auch als Kritik bzw. Auflehung des Mörders gegenüber dem HERRN. Schön gesehen wird im Midrasch der Zusammenhang mit der Erzählung von Gen 3,17-19. Bisher scheint also alles für eine Übersetzung von avon im Sinn der revidierten Einheitsübersetzung zu sprechen.

Ibn Ezra

Bei Ibn Ezra sieht die Deutung von avon ganz anders aus:

גדול עוני מנשוא. ופירוש על דעת כל המפרשים שהוד‘ חטאו. ופי‘ נשוא כטעם סלוח כמו נושא עון. ולפי דעתי שהעברים יקראו העקב שכר. והעונש הרע הבא בעבור העון חטאת. וכן כי לא שלם עון האמורי. אם יקרך עון. ויגדל עון בת עמי. והטעם כי זה העונש גדול לא אוכל לסבלו ויורה על אמתת זה הפי‘ הפסוק הבא אחריו

Zu groß ist meine avon um sie zu ertragen. Und die Erklärung zur Bedeutung ist bei allen Kommentatoren, dass es [sich um] das Bekenntnis (הודאה) seiner Sünde [handelt]. Und die Erklärung (פירוש) von neso (ertragen) entspreche der Bedeutung von vergeben wie noseh avon [in dem Bibelvers Ex 34,7 =] avon ertragen [was als avon vergeben verstanden wird.] 1 Meiner Ansicht nach nennen die Hebräer die Vergeltung einer Tat ekev [=Ferse] 2 und die schlimme Strafe, die für die avon kommt, eine Sünde. Ebenso [verhält es sich mit dem Bibelvers Gen 15,16:] „Denn die avon des Amoriters ist nicht vollständig“. [Oder dem Bibelvers 1 Sam 28,10:] „Keine avon soll dich treffen“. 3 [Oder im Bibelvers Klgl 4,6:] „Und größer ist die avon der Tochter meines Volkes [als die Sünde Sodoms]“. Und der Sinn [der Aussage Kains in Gen 4,13] ist, dass diese Strafe groß ist – er kommt nicht damit zurecht, sie zu ertragen und leitet so zu der wahren Erklärung, [die] der Vers, der nach ihm kommt [bestätigt].4

Durch seine philologische Analyse kommt Ibn Ezra zum Ergebnis, dass avon zwar mit Sünde zusammenhängt, aber eben nicht die Sünde oder Übertretung selbst, sondern ihre Konsequenzen bedeutet. Er kann in meinen Augen plausibel machen, dass sich Kain über die Schwere der Konsequenz seiner Tat beklagt, die er unerträglich findet – woraufhin der HERR ihn dann in Gen 4,15 zusätzlich vor willkürlicher Ermordung schützt. Nach Ibn Ezra wäre also sinngemäß zu übersetzen:

Und Kain sprach zum HERRN:
Zu groß ist die Konsequenz meiner Schuld, um sie zu ertragen.

Und heute?

Spannend finde ich, dass die Vorherrschaft der Übersetzungslinie Targum – Samaritanus – Midrasch – Raschi vorbei ist. Sie zeigt sich noch in der Vulgata

dixitque Cain ad Dominum maior est iniquitas mea quam ut veniam merear

bei Gesenius, Koehler & Baumgartner und reicht bis in die aktuelle Einheitsübersetzung. Rolf Knierim kritisierte die herkömmliche Übersetzungs-Praxis von avon als „Vergehen“, „Schuld“ oder „Strafe“ und schlägt vor:

Von der Grundbedeutung her wäre eine Übersetzung mit »Beugung« (Tat und Folge) – »Gebeugt-Sein/Gebeugtheit« (Schicksal,Strafe), »Krümmung/Gekrümmt-Sein« oder »Verkehrung/Verkehrtheit/Verkehrt-Sein« am konsequentesten. Sie ist unerläßlich, will man die Art des Hebräischen, die entsprechenden Vorgänge mit dieser Art von Metapher zu disqualifizieren, exakt widergeben.5

Es ist für mich nachvollziehbar, dass praktisch keine Übersetzung, die ich kenne, diesen Vorschlag aufgegriffen hat. Wichtig scheint mir aber der Hinweis zu sein, dass avon ein metaphorischer Ausdruck ist. Knierim selbst interpretiert avon in Gen 4,13 so, dass es hier „um das Verhältnis von Tat und Folge“ gehe.6

Claus Westermann gibt in der englischen Fassung seines Kommentars den Vers Gen 4,13 so wieder:

And Cain said to Yahweh: My punishment is too heavy to bear. 7

Wie Ibn Ezra betont Westermann, dass Vers 14 entfaltet, was Vers 13 erzählt.8 In seinem Kommentar führt er dann aus, dass es nicht darum gehe „Sünde“ oder „Strafe“ als Bedeutung für falsch oder richtig zu erklären. Vielmehr habe man es mit einem Begriff zu tun, der beides beinhalte. Gen 4,13 lege aber die Betonung auf den Umstand, dass der HERR Kain die Konsequenzen seiner Sünde nicht erspare.9

Auch wenn Westermann Ibn Ezra nicht erwähnt, so folgt er doch seiner lexikalischen und philologischen Auslegung. Entsprechend übersetzt Robert Alter, der eine in meine Augen herausragende englische Fassung der Tora geschaffen hat ebenfalls:

And Cain said to the LORD: My punishment is to great to bear.10


  1. Ibn Ezra zitiert hier die berühmte Gnadenformel aus dem Buch Exodus.
  2. Weil sie sich gleichsam an die Ferse des Menschen heftet, der diese gute oder schlechte Tat vollbracht hat. Eine angemessene Übersetzung wäre also – Konsequenz.
  3. Ein Zitat aus der Erzählung von der „Hexe von Endor“, der Saul schwört, dass sie keine Strafe treffen wird, obwohl sie gegen sein ausdrückliches Verbot als König handelt (1 Sam 28,3+9).
  4. Da sich Kain in Gen 4,13 über die Folgen seiner Bestrafung beklagt, ist Vers 13 ebenso zu interpretieren.
  5. Theologisches Handwörterbuch zum AT, (München 1976) Band 2, 245. Knierim hatte 1965 in Heidelberg bei Gerhard von Rad zum Thema „Die Hauptbegriffe für Sünde im Alten Testament“ promoviert.
  6. 2,246 a.a.o.
  7. Claus Westermann: Genesis 1-11. A Commentary. (Minneapolis 1984), S. 281
  8. S. 308 a.a.o.
  9. Vgl. S. 309 a.a.o.
  10. Robert Alter: The five books of Moses (New York 2004) S. 31

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