Da trat eine Finsternis ein II

Um die folgenden Zeitangaben zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf die antike Stundenzählung werfen. Sie geht im Wesentliche auf die Babylonier zurück.

Herodot schreibt Mitte des 5. Jh. vor Chr. in seinen Historien:

Πόλον μὲν γὰρ καὶ γνώμονα καὶ τὰ δυώδεκα μέρεα τῆς ἡμέρης παρὰ Βαβυλωνίων ἔμαθον οἱ Ἕλληνες.

Denn die Sonnenuhr und die Zeiger an der Sonnenuhr und die zwölf Teile des Tages haben die Hellenen von den Babyloniern gelernt. (Hist II,109.3; MÜ)

Diese Einteilung des Tages in zwölf Zeiteinheiten – die uns ja bis heute vertraut ist, galt dann aber nicht nur für die Griechen, sondern auch für die Römer – und die Bewohner Judäas. So ergibt sich folgendes Bild: Man teilte den Tag in zwölf Stunden ein und rechnete dabei vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.

Die erste Stunde begann demnach um 6 Uhr morgens gemäß unserer heutigen Uhrzeit, die sechste Stunde entsprach dann 12 Uhr Mittags, die neunte Stunde 15 Uhr usw.

Antike Zeitangabe entspricht heute in etwa
Erste Stunde ca. 6 Uhr
Sechste Stunde ca. 12 Uhr Mittags
Neunte Stunde ca. 15 Uhr

Damit kommen wir zur Passion Jesu, bei der die Synoptiker mit diesen Zeitangaben arbeiten:

Mt 27,45 Mk 15,33 Lk 23,44-45a
Ἀπὸ δὲ ἕκτης ὥρας Καὶ γενομένης ὥρας ἕκτης Καὶ ἦν ἤδη ὡσεὶ ὥρα ἕκτη
σκότος ἐγένετο ἐπὶ πᾶσαν τὴν γῆν σκότος ἐγένετο ἐφ’ ὅλην τὴν γῆν καὶ σκότος ἐγένετο ἐφ’ ὅλην τὴν γῆν
ἕως ὥρας ἐνάτης. ἕως ὥρας ἐνάτης. ἕως ὥρας ἐνάτης
τοῦ ἡλίου ἐκλιπόντος,
Von der 6. Stunde (an) Und als (die) 6. Stunde geworden war Und (es) war schon etwa (die) 6. Stunde
aber wurde Finsternis Finsternis wurde und eine Finsternis wurde
über die ganze Erde über die ganze Erde über die ganze Erde
bis zur 9. Stunde. bis zur 9. Stunde. bis zur 9. Stunde
als die Sonne aufhörte (zu scheinen).
(Ü: Münchener NT)

Mit anderen Worten: die Sonnenfinsternis begann um 12 Uhr und dauerte bis zu Todesstunde Jesu um 15 Uhr. Das unterscheidet sie deutlich von der mit dem Tod Caesars verbundenen Überlieferung. Ich sehe ihre Wurzeln im Propheten Amos. Dort heißt es in Am 8,9-10:

וְהָיָה ׀ בַּיּוֹם הַהוּא נְאֻם֙אֲדֹנָי יְהוִה וְהֵבֵאתִי הַשֶּׁמֶשׁ בַּֽצָּהֳרָיִם וְהַחֲשַׁכְתִּי לָאָרֶץ בְּיוֹם אֽוֹר׃

וְהָפַכְתִּי חַגֵּיכֶם לְאֵבֶל וְכָל־שִֽׁירֵיכֶם֙לְקִינָה וְהַעֲלֵיתִי עַל־כָּל־מָתְנַיִם֙ שָׂק וְעַל־כָּל־רֹאשׁ קָרְחָה וְשַׂמְתִּיהָ֙כְּאֵבֶל יָחִיד וְאַחֲרִיתָ֖הּכְּיוֹם מָֽר׃

An jenem Tag wird es geschehen, spricht der Herr, HERR, da lasse ich die Sonne am Mittag untergehen und bringe Finsternis über die Erde am lichten Tag.
Und ich verwandle eure Feste in Trauer und alle eure Gesänge in Totenklage und bringe auf alle Hüften Sacktuch und auf jeden Kopf eine Glatze. Und ich mache es wie bei der Trauer um den einzigen Sohn und das Ende davon wie einen bitteren Tag. (Am 8,9-10; Ü: Elberfelder)

Ich halte es für leicht nachvollziehbar, dass die ersten Christen diesen Vers für ihre Darstellung und Deutung des Todes Jesu heranzogen und sehe hier die eigentliche Parallele für die Erzählung von der Sonnenfinsternis. Weil die Sonne am Mittag untergeht, wenn der einzige Sohn stirbt, beginnt die Sonnenfinsternis in den drei genannten Evangelien um die sechste Stunde.

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