Über die Eroberung Jerichos und das dabei geschilderte Gemetzel habe ich hier schon geschrieben, ich möchte zu dieser Frage noch einen kleinen Nachschlag liefern. Der hebräische Text weist eine Eigenheit auf, die den Rabbinen zu denken gab – und sie wiederum zu weitreichenden Schlussfolgerungen führte. In Jos 2 wird erzählt, wie Josua zwei Spione nach Jericho schickt, um die Stadt auszukundschaften. Sie übernachten im Haus der Rahab, einer Hure (Jos 2,1). Als der König von Jericho die beiden Spione suchen lässt, versteckt Rahab sie auf ihrem Flachdach und rettet ihnen so das Leben. Bevor sie den beiden zur Flucht verhilft, nimmt sie ihnen den Eid ab: »dass ihr meinen Vater und meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was ihnen gehört, am Leben lasst und uns vor dem Tod bewahrt« (Jos 2,14). Als Zeichen wird vereinbart, dass Rahab eine purpurrote Schnur an das Fenster ihres Hauses bindet – alle im Haus würden bei der Eroberung Jerichos verschont werden.
In Kapitel 6 wird dann berichtet, wie dieser Eid erfüllt wird. »Da gingen die jungen Männer, die Kundschafter, und holten Rahab, ihren Vater, ihre Mutter, ihre Brüder und alles, was ihr gehörte; sie führten ihre ganze Verwandschaft heraus und wiesen ihr einen Platz außerhalb des Lagers Israels an.« (Jos 6,23) Was die Einheitsübersetzung als »ihre ganze Verwandschaft« übersetzt, heißt im Hebräischen kol-mišpᵉḥotæāh – man wäre geneigt, das mit »ihre ganze Mischpoche« zu übersetzen. Aber: das Wort steht im Plural und muss daher eigentlich mit »alle ihre Geschlechter« (Zunz) bzw. »all ihre Sippen« (Buber/Rosenzweig) übersetzt werden.
Die rabbinische Ausleger kamen daher sehr schnell auf eine recht große Anzahl von so geretteten Menschen: die späteren Bewohner des Landes mussten so zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von Rahab und ihren Familien abstammen. Als Beispiele einer solchen Abstammung nennt die rabbinische Tradition etwa die Propheten Jeremia und Ezechiel (vgl. Pesiqta de Rab Kahana XIII,12). Ein nicht rabbinischer Schriftgelehrter kannte diese Tradition ebenfalls, denn er nennt Rahab im Stammbaum Jesu (Mt 1,5). Hebräer und Jakobus kennen sie als Vorbild des Glaubens (Hebr 11,31) und der guten Werke (Jak 2,25).
Der biblische Text in Josua selbst war der Anlass war für diese Auslegung, die die Bedeutung der Rahab-Erzählung für die Gegenwart betont: »Die Dirne Rahab und die Familie ihres Vaters und alles, was ihr gehörte, ließ Josua am Leben. So wohnt ihre Familie bis heute mitten in Israel; denn Rahab hatte die Boten versteckt, die Josua ausgesandt hatte, um Jericho auskundschaften zu lassen.« (Jos 6,25)
So hat Cranach die Eroberung Jerichos für die Lutherbibel dargestellt: auf der rechten Seite sieht man, wie Rahab die Schnur aus ihrem Haus hängt.