Was ist das wichtigste Gebot der Tora?

Emmanuel Levinas veröffentlichte 1963 in dem Sammelband »Difficile liberté. Essais sur le judaïsme« den Aufsatz »Une religion d’adultes«. Hier zitiert er ohne Stellenangabe einen Abschnitt, der im französischen Original bei ihm folgendermaßen lautet:

Ben Zomma a dit: « J’ai trouvé un verset qui contient toute la Thora: Ecoute Israël, le Seigneur est notre Dieu, le Seigneur est Un. » Ben Nanas a dit: « J’ai trouvé un verset qui contient toute la Thora: tu aimeras le prochain comme toi-même. » Ben Pazi a dit: J’ai trouvé un verset qui contient toute la Thora: tu sacrifieras un agneau le matin et l’autre au crépuscule. » Et Rabbi, leur maître, se dressa et décida: « La loi est selon Ben Pazi. »

In meiner deutschen Übersetzung:

Ben Soma hat gesagt: „Ich habe einen Vers gefunden, der die gesamte Tora enthält: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“ Ben Nanas hat gesagt: „Ich habe einen Vers gefunden, der die gesamte Tora enthält: du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“ Ben Pazi hat gesagt: „Ich habe einen Vers gefunden, der die gesamte Tora enthält: du sollst ein Lamm am Morgen schlachten und das andere am Abend.“ Und Rabbi, ihr Meister, erhob sich und entschied: „Das Gesetz ist gemäß Ben Pazi“.

Die Herkunft des Zitats – Ein Yaakov

Die Herkunft des Zitates ist das Werk עין יעקוב – »Der Jakobsbrunnen« des Yaakov ibn Chaviv, eines Talmudisten des 15. Jh. d.a.Z. Von ihm wurde das hagaddische Material des Talmud in diesem Werk gesammelt. Hier die entsprechende Passage aus dem ersten Band der Wilnaer Druckausgabe von 1833.

Das Zitat aus Ein Yaakov
Das Zitat aus Ein Yaakov

Der Text ist in Raschi-Schrift geschrieben – in Hebräische Quadratschrift transkribiert sieht er so aus:

בן זומה אומר
מצינו פסוק כולל יותר
והוא שמע ישראל וגו׳
בן ננס אומר
מצינו פסוק כולל יותר
והוא ואהבת לרעך כמוך
שמעון בן פזי אומר
מצינו פסוק כולל יותר
והוא את הכבש אחד תעשה בבקר וגו׳
עמד ר׳ פלוני על רגליו ואמר
הלכה כבן פזי דכתיב
ככל אשר אני מראה אותך את תבנית המשכן וגו׳

Meine Übersetzung:

Ben Soma sagt:
Wir haben einen Vers gefunden, der die übrigen zusammenfasst.
Und er ist: Höre Israel usw. (Dtn 6,4)
Ben Nanas sagt:
Wir haben einen Vers gefunden, der die übrigen zusammenfasst.
Und er ist: Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Lev 19.18).
Schimon ben Pazi sagt:
Wir haben eine Vers gefunden, der die übrigen zusammenfasst.
Und er ist: du wirst ein Lamm darbringen am Morgen usw. (Ex 29,39)
Irgend ein Rabbi (wörtlich: R. Ploni) erhob sich auf seine Füße und sagte:
Die Halacha ist wie Ben Pazi, denn es steht geschrieben:
Wie alles, das ich dir zeige, das Modell der Wohnung usw. (Ex 25,9)

Die Unterschiede

Man sieht, dass Levinas recht frei mit seiner Vorlage umgegangen ist. Der bedeutsame Unterschied liegt in der Identität des letzten auftretenden Rabbis. Während es sich im Original um irgendeinen Rabbi handelt (vgl. den Beitrag zu Ploni Almoni), wird bei Levinas Rabbi daraus, das ist Yehudah HaNasi, die rabbinische Autorität schlechthin. Außerdem läßt Levinas die Begründung dieser Autorität für seine Auswahl des Verses von Ex 25,9 aus.

Auslegung

Um zunächst in der Erzählung zu bleiben: sie hat ganz offensichtlich neutestamentliche Parallelen (Mk 12.28-34; Mt 22,34-40; Lk 10,15-28; vgl. Röm 13,8-9) – aber eine ganz andere Pointe. Levinas formuliert das so:

Voici un passage où trois opinions sont énoncées ; la deuxième indique la façon dont la première est vraie et la troisième indique les conditions pratiques de la deuxième. (…) La loi est effort. La quotidienne fidélité au geste rituel demande un courage, plus calme, plus noble et plus grand que celui du guerrier.

Meine Übersetzung:

Hier eine Stelle, in der drei Meinungen dargelegt werden: die zweite gibt die Weise an, in der die erste wahr ist und die dritte gibt die praktischen Bedingungen der zweiten an. (…) Das Gesetz ist Anstrengung. Das tägliche Festhalten an einer rituellen Handlung erfordert einen Mut, ruhiger, nobler und größer als den des Kriegers.

Ich finde es bemerkenswert, dass der letzte Rabbi, der spricht, sich auf ein Gesetz bezieht, dass schon zu Lebzeiten Rabbis – also am Ende des zweiten Jahrhunderts – nicht mehr angewandt werden konnte, da mit der Zerstörung des Tempels die Opfer aufhörten. Das gilt natürlich um so mehr für die Abfassungszeit des Textes im 15. Jh. Es geht also wirklich um eine Geste. Ich würde den Text so interpretieren: es ist leicht, von Gottes- und Nächstenliebe zu reden. Wirkliche Treue zu seinem Glauben lässt sich nur feststellen, wenn mindestens zweimal am Tag eine Handlung gesetzt wird, die Ausdruck dieses Glaubens ist. »Das Gesetz ist Anstrengung.«

Der Umstand, dass diese Erzählung im Vorwort von »Ein Yaakov« und noch dazu in Raschi-Schrift (also als Kommentar) vorkommt, ist für mich ein sicheres Indiz, dass Yaakov ibn Chaviv diese Erzählung nicht vorgefunden, sondern – zumindest in dieser Variante – erfunden hat. Und das hat er gut gemacht.

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