Jesustraditionen und die Mischna

Abraham Geiger hat 1845 in Breslau ein »Lehr- und Lesebuch zur Sprache der Mischnah« veröffentlicht. Über ein Jerusalemer Antiquariat ist ein Exemplar zu mir gekommen. Als christlicher Theologe gehöre ich eindeutig zur Zielgruppe des Lehrbuches, denn Geiger wollte Leuten wie mir, die eigentlich keine Ahnung und oft Vorurteile haben, ohne in der Lage zu sein, eine Zeile nicht vokalisiertes Hebräisch zu verstehen, eine grundlegende Einführung geben.

Nach einer schönen Einleitung in die Besonderheiten des Mischna-Hebräischen beginnt Geiger den zweiten Teil des Bändchens mit ausgesuchten Lesestücken, die er zunächst vokalisiert (und im weiteren Verlauf nur noch unvokalisiert) bringt, alle philologisch von ihm editiert und mit einem ausführlichen Kommentar versehen. Gleich der zweite Text hat es in sich, ich biete ihn hier in der Geiger’schen Vokalisierung, aber ohne seine textkritischen Anmerkungen.

.חַיָּב אָדָם לְבָרֵךְ עָל הָרָעָה כְּשֵׁם שֶׁהוּא מְבָרֵךְ עָל הַטּוֹבָה שֶׁנֶּאֱמַר וְאָהַבְתָּ אֵת ה‘ אֱלֺהֶיךָ בְּכָל לְבָבְךָ וּבְכָל נַפְשְׁךָ וּבְכָל מְאֺדֶךָ
.בְּכָל לְבָבְךָ בִּשְׁנֵי יְצָרִים בְּיֵצֶר טוֹב וּבְיֵצֶר רָע
וּבְכָל נַפְשְׁךָ אֲפִלּוּ הוּא נוֹטֵל אֶת נַפְשְׁךָ, וּבְכָל מְאֺדֶךָ בְּכָל מְמוֹנֶךָ, דָּבַר אַחֵר בְּכָל מִדָּך וּמִדָּה שֶׁהוּא מוֹדֵד לְךָ הֱוֵי מוֹדֶה לוֹ בִּמְאֺד מְאֺד

Übersetzung: Wie ein Mensch verpflichtet ist, über das Böse einen Segen zu sprechen, so spricht er auch einen Segen über das Gute, denn es heißt in der Schrift (Dtn 6,5): Und du wirst den HERRN, deinen Gott, lieben, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. »Mit deinem ganzen Herzen« – mit den zwei Trieben: mit dem guten Trieb und mit dem bösen Trieb. »Und mit deiner ganzen Seele« – sogar, wenn er dir die Seele (= das Leben) nimmt. »Und mit deiner ganzen Kraft« – mit deinem ganzen Vermögen; eine andere Deutung: mit deinem ganzen Maß – denn das Maß, mit dem er dir zumißt, soll ihm überaus gedankt sein. (mBer 9,5; MÜ)

Mammon Maß für Maß

Der Mensch soll den HERRN also lieben – auch mit den negativen Anteilen seines Persönlichkeit – ein gutes Mittel gegen Verdrängungen und Projektionen. Was ich hier als »Vermögen« übersetzt habe, heißt auf Hebräisch »Mammon«, und so hat es bei mir ziemlich bald geklingelt. Man vergleiche die Aussage mit dieser aus dem NT:

Οὐδεὶς δύναται δυσὶ κυρίοις δουλεύειν· ἢ γὰρ τὸν ἕνα μισήσει καὶ τὸν ἕτερον ἀγαπήσει, ἢ ἑνὸς ἀνθέξεται καὶ τοῦ ἑτέρου καταφρονήσει. οὐ δύνασθε θεῷ δουλεύειν καὶ μαμωνᾷ.

Niemand kann zwei Herren dienen: denn er wird denen einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen. (Mt 6,24; MÜ)

Etwas schwierig ist die Aussage über das Maß, mit dem zugemessen wird, hier liegt (auch nach Geiger) ein Wortspiel mit מדה מודה und מאד vor. Doch auch hier drängt sich assoziativ eine Parallele auf:

Καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς· βλέπετε τί ἀκούετε. ἐν ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε μετρηθήσεται ὑμῖν καὶ προστεθήσεται ὑμῖν.

Und er sagte ihnen: Seht zu, was ihr hört! Mit welchem Maß ihr meßt, wird euch zugemessen und hinzugefügt werden. (Mk 4,24; MÜ)

Stab, Geldbeutel, Staub auf den Füßen

Der Mischna-Text geht dann so weiter:

לֺא יָקֵל אָדָם אֶת רֺאשׁוֹ כְּנֶגֶד שַׁעַר הַמִּזְרָח שֶׁהוּא מְכֻוָּן כְּנֶגֶד בֵּית קָדְשֵׁי קָדָשִׁים, לֺא יִכָּנֵס לְהַר הַבַּיִת בְּמַקְלוֹ וּבְמַנְעָלוֹ וּבְפֻנְדָּתוֹ וּבְאָבָק שֶׁעַל רַגְלָיו וְלֺא יַעֲשֶׂנוּ קָפַנְדַּרִיָא וּרְקִיקָה מִקַּל וָחוֹמֶר

Ein Mensch darf sich nicht leichtsinnig gegenüber dem Osttor verhalten, denn es ist gerade gegenüber dem Haus des Allerheiligsten angeordnet. Man soll nicht zum Berg des Hauses mit seinem Stock hineingehen, oder mit seinem Schuh, oder mit seinem Geldgürtel, oder mit Staub auf seinen Füßen und man soll ihn nicht zu einer Abkürzung machen und Ausspucken noch viel weniger! (MÜ)

Die Rede ist von der ehrfurchtsvollen Haltung gegenüber dem Tempelberg in Jerusalem. Der hebräische Text hat nicht nur zwei lateinische Lehnwörter – nämlich פֻּנְדָהfunda (lat. Schleuderriemen) – Geldsäckchen, daher Leibgürtel und קָפַנְדַּרִיָאvia compendiaria – abgekürzter Weg, Durchgang. Es gibt auch eine bemerkenswerte Stichwortverknüpfung zum NT:

καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς· μηδὲν αἴρετε εἰς τὴν ὁδόν, μήτε ῥάβδον μήτε πήραν μήτε ἄρτον μήτε ἀργύριον μήτε [ἀνὰ] δύο χιτῶνας ἔχειν. καὶ εἰς ἣν ἂν οἰκίαν εἰσέλθητε, ἐκεῖ μένετε καὶ ἐκεῖθεν ἐξέρχεσθε. καὶ ὅσοι ἂν μὴ δέχωνται ὑμᾶς, ἐξερχόμενοι ἀπὸ τῆς πόλεως ἐκείνης τὸν κονιορτὸν ἀπὸ τῶν ποδῶν ὑμῶν ἀποτινάσσετε εἰς μαρτύριον ἐπ’ αὐτούς.

Und er sprach zu ihnen: Nehmt nichts an euch auf dem Weg, weder einen Stock, noch eine Tasche, weder Brot, noch Silber, noch [je] zwei Gewänder [sollt ihr] haben. Und wenn ihr in eine Haus hineingeht, bleibt dort, und geht von dort [wieder] hinaus. Und wenn sie euch nicht aufnehmen, geht aus dieser Stadt heraus, schüttelt den Staub von euren Füßen, zum Zeugnis gegen sie. (Lk 9,3)

In der Parallelstelle Mk 6,8 wird zwar gesagt, man soll nur einen Stock mitnehmen, aber dafür ist hier davon die Rede, dass man im Gürtel kein Kupfer(geld) tragen soll.

Ich meine, dass Geiger diese Stichwortverkettung natürlich bekannt war.

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