Eine Frage für eine exegetische Millionenshow: was fällt in Lk 14,5 am Schabbat in einen Brunnen – ein Esel, ein Sohn oder ein Schaf? Ein Publikums-Joker hilft hier nicht weiter …
Der Text lautet in der aktuellen Ausgabe des Nestle-Aland:
καὶ πρὸς αὐτοὺς εἶπεν· τίνος ὑμῶν υἱὸς ἢ βοῦς εἰς φρέαρ πεσεῖται, καὶ οὐκ εὐθέως ἀνασπάσει αὐτὸν ἐν ἡμέρᾳ τοῦ σαββάτου;
Und er sprach zu ihnen: wem von euch wird ein Sohn oder ein Rind in einen Brunnen fallen, und er wird ihn nicht sofort herausziehen am Tag des Schabbats? (Lk 14,5; MÜ)
Bei Thomas von Aquin las ich zu meinem Erstaunen in der Summa theologica IIIª q. 40 a. 4 ad 1, von einem asinus aut bos – also einem Esel oder einem Rind. Woher hat Thomas diese Lesart? Ein Blick in den kritischen Apparat bietet folgendes Bild:
Lesart »ein Sohn oder ein Rind«
Die heutige Lesart findet sich in den sehr alten Handschriften Papyrus 45 und 75 aus dem dritten Jahrhundert, bei den Majuskel.handschriften mit kleiner Abweichung im Codex Alexandrinus (5. Jh.), sowie im Codex Vaticanus (4. Jh.) und im Codex Freerianus, der das Freer-Logion enthält (5. Jh.). Sie ist überdies im Mehrheitstext präsentiert. Durch P 75 und den Codex Vaticanus sind damit zwei sehr gewichtige Zeugen für diese Lesart gegeben.
Lesart »ein Esel oder ein Rind«
Die Lesart »ein Esel (ὄνος – onos) oder ein Rind«, die Thomas vorlag, wird durch folgende Majuskel-Handschriften gestützt: den Codex Sinaiticus (4. Jh.), den Codex Cyprius (9. Jh.), den Codex Angelicus (9. Jh.) und den Codex Athous Laurensis (8./9. Jh.). Das ist nicht schlecht, aber bei weitem nicht so gut wie die heutige Lesart.
Lesart »ein Schaf oder ein Rind«
Offensichtlich in Angleichung an den Text von Mt 12,11 liest der Codex Bezae Cantabrigiensis »ein Schaf (πρόβατον – probaton) oder ein Rind«. Hier kommt eine weitere interessante Möglichkeit ins Spiel: John Mill hat bereits 1723 vorgeschlagen, dass der Sohn (υἱὸς – huios) durch eine Verschreibung des altgriechischen Wortes ὄις (ois) – für »Schaf« entstanden sei. Die Thomas bekannte Lesart ist ihm durch den vorhergehenden Vers Lk 13,15 – wo Jesus von einem »Ochsen oder Esel« spricht, erklärbar. 1
Lesart »ein Esel, ein Sohn oder ein Rind«
Auch diese Lesart gibt es, allerdings nur beim Codex Coridethianus (9. Jh.) und beim Cureton-Syrer, einer Palimpsesthandschrift aus dem 5. Jh.
Auswertung des Befundes:
Am besten bezeugt ist die Lesart »ein Sohn oder ein Rind«. Sie erklärt auch am besten die Varianten. Von Sohn (υἱὸς – huios) ist es im griechischen nicht so weit zum Esel (ὄνος – onos). Das Schaf dürfte am ehesten durch die Parallelstelle Mt 12,11 zu erklären sein. Die These John Mills ist interessant, aber ihr fehlt meiner Meinung nach die Deckung durch entsprechende Handschriften.