Das meiner Meinung nach aus der Logienquelle Q stammende Gleichnis ist von Lukas und Matthäus ganz unterschiedlich akzentuiert worden. Ich beschäftige mich hier mit der lukanischen Fassung in Lk 19,11-27.
Die Rahmenerzählung
Im Unterschied zu der matthäischen Fassung (Mt 25,14-30) bietet die Erzählung bei Lukas eine Rahmenhandlung, die gewalthaltig ist und nach meiner gottesdienstlichen Erfahrung von den Predigenden gerne ausgelassen wird.
12 Ein Mann von vornehmer Herkunft wollte in ein fernes Land reisen, um die Königswürde zu erlangen und dann zurückzukehren. 13 Er rief zehn seiner Diener zu sich, verteilte unter sie Geld im Wert von zehn Minen 1 und sagte: Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme. 14 Da ihn aber die Einwohner seines Landes hassten, schickten sie eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen: Wir wollen nicht, dass dieser Mann unser König wird. 15 Dennoch wurde er als König eingesetzt. […] 27 Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder! (Lk 19,12-15a. 27; EÜ)
Dass es sich bei dieser Rahmenhandlung nicht um eine Selbstbeschreibung Jesu handelt, macht ein Blick in die jüdischen Altertümer des Flavius Josephus deutlich. Diese Rahmenhandlung ist so ähnlich wirklich passiert, und zwar nach dem Tod von Herodes dem Großen im Jahr 4 vor Chr.
Aus dem Bericht des Josephus
Josephus berichtet, was sich ereignete, nachdem der Herodes Sohn Archelaos sich nach Rom begeben hatte, um sich als Nachfolger seines Vaters einsetzen zu lassen.
Ἀρχελάῳ δ᾽ ἐπὶ Ῥώμης ἑτέρων πραγμάτων ἐφύοντο ἀρχαὶ κατὰ τοιαύτας αἰτίας. ἀφίκετο εἰς τὴν Ῥώμην πρεσβεία Ἰουδαίων Οὐάρου τὸν ἀπόστολον αὐτῶν τῷ ἔθνει ἐπικεχωρηκότος ὑπὲρ αἰτήσεως αὐτονομίας. καὶ ἦσαν οἱ μὲν πρέσβεις οἱ ἀποσταλέντες γνώμῃ τοῦ ἔθνους πεντήκοντα, συνίσταντο δὲ αὐτοῖς τῶν ἐπὶ Ῥώμης Ἰουδαίων ὑπὲρ ὀκτακισχίλιοι. Καίσαρός τε συνέδριον φίλων τε τῶν αὐτοῦ καὶ Ῥωμαίων τῶν πρώτων συνάγοντος ἐν ἱερῷ Ἀπόλλωνος μεγάλοις τέλεσιν ὑπ᾽ αὐτοῦ ἱδρυμένῳ, οἱ μὲν πρέσβεις μετὰ τοῦ πλήθους τῶν αὐτόθι Ἰουδαίων ἀφικνοῦνται, Ἀρχέλαος δὲ μετὰ τῶν φίλων.
»Auf Archelaos aber prasselten in Rom anderen Schwierigkeiten ein, 2 die Ursachen waren folgende Gründe: Nach Rom kam eine Gesandtschaft der Juden, denn Varus 3 hatte dem Volk deren Absendung zu Gunsten der Freiheit, nach eigenen Gesetzen zu leben, zugestanden. Und die Gesandten, die auf Beschluss des Volkes gesendet wurden, waren fünfzig; sie hatten sich aber mit den in Rom seienden Juden – über achttausend – vereinigt. Der Kaiser versammelte sowohl die Ratsversammlung seiner Freunde als auch die Vornehmsten der Römer im Tempel des Appollon, der von ihm mit großen Kosten errichtet worden war. Die Gesandten kamen mit einer großen Anzahl der sich vor Ort befindenden Juden, Archelaos aber mit den Freunden dort an.« (Ant XVII,11,1; MÜ)
Trotz der heftigen Anklagen der Gesandtschaft gegen Archelaos ging die Sache für ihn zunächst gut aus:
Καῖσαρ δ᾽ ἀκούσας διαλύει μὲν τὸ συνέδριον, ὀλίγων δ᾽ ἡμερῶν ὕστερον Ἀρχέλαον βασιλέα μὲν οὐκ ἀποφαίνεται, τῆς δ᾽ ἡμίσεως χώρας ἥπερ Ἡρώδῃ ὑπετέλει ἐθνάρχην καθίσταται, τιμήσειν ἀξιώματι βασιλείας ὑπισχνούμενος, εἴπερ τὴν εἰς αὐτὴν ἀρετὴν προσφέροιτο. τὴν δ᾽ ἑτέραν ἡμίσειαν νείμας διχῇ δυσὶν Ἡρώδου παισὶν ἑτέροις παρεδίδου Φιλίππῳ καὶ Ἀντίπᾳ τῷ πρὸς Ἀρχέλαον τὸν ἀδελφὸν ἀμφισβητήσαντι περὶ τῆς ὅλης ἀρχῆς.
»Als aber der Kaiser [das] gehört hatte, entließ er die Ratsversammlung. Aber einige Tage später ernannte er Archelaos – allerdings nicht zum König – aber er setzte ihn als Statthalter der Hälfte des Gebietes ein, für das Herodes Tribut gezahlt hatte. Es wurde [ihm] verheißen, mit der Würde des Königtums belohnt zu werden, wenn er sich tatsächlich durch seine Tugend [entsprechend] betragen werde. Die andere Hälfte teilte er zur Hälfte und gab sie den zwei übrigen Kinder des Herodes, Philippus und Antipas, der mit [seinem] Bruder Archelaos um die ganze Herrschaft gestritten hatte. (Ant XVII,11,4; MÜ)
Allerdings wurde Archelaos 6 n. Chr. von dem gleichen Kaiser abgesetzt und sein Herrschaftsgebiet direkt unter römische Verwaltung gestellt, was zur Folge hatte, dass Jesus von Pontius Pilatus verurteilt wurde.
Das Gleichnis selbst
Im Gleichnis selbst verteilt der Thron-Prätendent vor seiner Abreise Geld und will nach seiner Rückkehr den Profit sehen. Die ertragreichen Diener werden mit der Herrschaft über Städte belohnt. Dann kommt der letzte Diener …
Mit ihm kommt es zu einem bemerkenswerten Dialog:
20 Und der andere kam und sagte: Herr, siehe, hier ist dein Pfund, das ich in einem Schweisstuch verwahrt hielt; 21 denn ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mann bist; du nimmst, was du nicht hingelegt, und du erntest, was du nicht gesät hast. 22 Er spricht zu ihm: Aus deinem Mund werde ich dich richten, du böser Knecht! Du wusstest, dass ich ein strenger Mann bin, der ich nehme, was ich nicht hingelegt, und ernte, was ich nicht gesät habe? 23 Und warum hast du mein Geld nicht auf eine Bank gegeben, und wenn ich kam, hätte ich es mit Zinsen eingefordert? (Lk 19,20-23; Ü: Elberfelder)
Ist dieser Herr Gott/Christus?
Womit jede Predigt zu kämpfen hat, ist die Reaktion des Herrschers auf die Worte des Dieners: er bestreitet dessen Aussagen nicht, sondern sagt: du wusstest, das ich so bin! Aber: ist das eine angemessene Selbstbeschreibung Christi bzw. Gottes?
Zweite Beobachtung: der Hinweis auf den Zinsertrag bei der Bank. Der wird von der Tora explizit verboten und dieses Verbot wurde von Jesus in einer prophetischen Zeichenhandlung nachdrücklich durchgesetzt. Mit anderen Worten: die Deutung dieses Herren im Gleichnis als Gott bzw. Christus funktioniert nicht!
Der letzte Diener als Held des Gleichnisses
Versuchen wir einmal eine ganz andere Deutung: der letzte Diener als Held des Gleichnisses. Dafür spricht die Einleitung, die Lukas dem Text gegeben hat:
11 Als sie nun zuhörten, sagte er ein weiteres Gleichnis; denn er war nahe bei Jerusalem und sie meinten, das Reich Gottes werde sogleich offenbar werden. (Lk 19,11; Ü: Luther 1984)
Jesus erzählt dieses Gleichnis also, um seinen Anhängern eine Illusion zu nehmen – um ihnen zu zeigen, wie es in der Welt wirklich läuft. Die Reichen und Mächtigen werden am Schluss noch reicher und mächtiger sein. Aber die, die sich diesem System verweigern, können nicht mit Zustimmung rechnen, sie werden in massive Schwierigkeiten geraten!
Zwar wird der letzte Diener bei Lukas (im Unterschied zur Matthäus-Fassung!) nicht bestraft, aber:
24 Und zu den Umstehenden sprach er: Nehmt ihm das Pfund weg und gebt es dem, der die zehn Pfunde hat! 25 Da sagten sie zu ihm: Herr, er hat schon zehn Pfunde! 26 Denn ich sage euch: Wer hat, dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, von ihm wird auch das genommen werden, was er hat. (Lk 19,24-26; Ü: Schlachter 2000)
Deshalb verstehe ich dieses Gleichnis bei Lukas nicht als Gerichtsgleichnis, sondern als eine sehr präzise Beschreibung der Verhältnisse, die bedrückend aktuell ist. Und: die matthäische Fassung des Gleichnisses erfordert eine andere Deutung!
Disclaimer: Kennengelernt habe ich diese Deutung durch Richard Rohr: Von der Freiheit loszulassen 4. Meine Beschäftigung mit der Trapeza Frage bestätigt seine Kernaussage.