Manche Auslegungstraditionen nehmen im Lauf ihrer Überlieferung interessante Wege. Ein Beispiel ist die Erzählung der Tötung eines ägyptischen Aufsehers durch Mose in Ex 2,11-12.
»Und es geschah in jenen Tagen, als Moscheh gross war, da ging er aus zu seinen Brüdern und sah ihre Lastarbeiten und sah einen mizrischen Mann [= einen Ägypter], wie er einen ebräischen Mann von seinen Brüdern schlug. Und wandte sich dahin und dorthin, und als er sah, dass kein Mensch da war, erschlug er den Mizri [=den Ägypter] und verscharrte ihn im Sand.« (Ex 2,11-12 Zunz)
Genau so wenig wie bei der Erzählung von Kain und Abel verrät der Text, womit der Täter sein Opfer erschlug (Hebräisch nāchāh). Dieses Verb hat eine gewisse Bedeutungsbreite und wird z.B. auch verwendet, um zu sagen, dass die Sonne Jona stach, als die ihn beschirmende Pflanze verdorrt war (Jon 4,8).
Clemens von Alexandria († um 220 n. Chr.) überliefert in den Büchern der Stromateis folgende Auslegung: Mose habe den Aufseher getötet, in dem er ein Wort zu ihm gesprochen habe. Aus dem Kontext wird klar, dass mit diesem Wort der Heilige Gottesnamen gemeint ist. Diese Information hat der Kirchenvater von »den Eingeweihten« (hoi mystai) – sonst nennt er keine Begründung (vgl. MPG VIII 900).
Raschi (1040-1105) macht in seinem Tora-Kommentar verständlich, woher diese Deutung kam – wie immer von einer Eigenart des hebräischen Textes. Als im weiteren Verlauf der Erzählung Moses den Streit zweier Hebräer schlichten will, antwortet der Aggressor – wörtlich übersetzt: »Wer hat dich gesetzt zum Obmann und Richter über uns? Solltest du mich umbringen indem du sprichst (ōmēr), so wie du getötet hast den Ägypter?« (Ex 2,14 – meine Übersetzung). Raschi: »Von hier lernen wir, dass er ihn mit dem ausgesprochenen Gottesnamen getötet hat.« (Übersetzung: Selig Bamberger).
Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass der Bischof von Alexandria diese offensichtlich sehr alte Deutung gekannt hat …