Was bedeutet Kairos?

Einleitung

In seiner Beschreibung Griechenlands bietet Pausanias (um 115 – ca. 180) bei seinem Besuch in Olympia eine Altar-Periegese – und kommt dabei auf den kairos zu sprechen:

[9] ἐφεξῆς δὲ Ὁμονοίας βωμὸς καὶ αὖθις Ἀθηνᾶς, ὁ δὲ Μητρὸς θεῶν. τῆς ἐσόδου δὲ τῆς ἐς τὸ στάδιόν εἰσιν ἐγγύτατα βωμοὶ δύο: τὸν μὲν αὐτῶν Ἑρμοῦ καλοῦσιν Ἐναγωνίου, τὸν δὲ ἕτερον Καιροῦ. Ἴωνι δὲ οἶδα τῷ Χίῳ καὶ ὕμνον πεποιημένον Καιροῦ: γενεαλογεῖ δὲ ἐν τῷ ὕμνῳ νεώτατον παίδων Διὸς Καιρὸν εἶναι. πλησίον δὲ τοῦ Σικυωνίων θησαυροῦ ἤτοι Κουρήτων ἢ τοῦ Ἀλκμήνης ἐστὶν Ἡρακλέους: λέγεται γὰρ καὶ ἀμφότερα.
Beschreibung Griechenlands, V,14,9

„Der darauf folgende Altar [ist der] der [Göttin der] Eintracht und danach der [Göttin] Athene, [dann der Altar] der Mutter der Götter. Ganz in der Nähe des Eingangs in das Stadion sind zwei Altäre: den einen nennen sie [den Altar] des zu den Wettkämpfen gehörenden [Gottes] Hermes, den anderen [den Altar] des [Gottes] Kairos. Ich weiß, dass ein Hymnus auf Kairos auch von Ion von Chios (5. Jh. v. Chr.) geschaffen wurde: In dem Hymnus übermittelt er die Genealogie, dass Kairos das Jüngste der Kinder des Zeus sei. Nahe dem Schatzhaus der Sikyonier ist [ein Altar] des Herakles, entweder [dem] der Koureten oder [der Sohn] der Alkmene: denn beides ist zu lesen.” (MÜ)

Dem Dichter Poseidippos aus dem 3. Jh. vor Christus (er starb im Jahr der 133. Olympiade) verdanken wir eine genauere Beschreibung des von Lysippos geschaffenen Bildnisses des Gottes Kairos, das er in Form eines Dialogs zwischen Betrachter und Kunstwerk verfasst hat:

ᵅ Τίς, πόϑεν ὁ πλάστης; ᵝ Σικυώνιος. ᵅ Οὔνομα δὴ τὶς; ᵝ Λύσιππος. ᵅ σὺ δὲ, τίς; ᵝ Καιρὸς ὁ πανδαμάτωρ. ᵅ τίπτε δ᾽ ἐπ᾽ ἄκρα βέβηκας; ᵝ ἀεὶ τροχάω. ᵅ τί δὲ ταρσοὺς ποσσὶν ἔχεις διφυεῖς; ᵝ ἴπταμ᾽ ὑπηνέμιος. ᵅ χειρὶ δὲ δεξιτερῇ τί φέρεις ξυρόν; ᵝ ἀνδράσι δεῖγμα ὡς ἀκμῆς πάσης ὀξύτερος τελέϑω. ᵅ ἡ δὲ κόμη, τί κατ᾽ ὄψιν; ᵝ ὑπαντιάσαντι λαβέσϑαι, νὴ Δία. ᵅ τἀξόπιϑεν δ᾽ εἰς τί φαλακρὰ πέλει; ᵝ τὸν γὰρ ἄπαξ πτηνοῖσι παραϑρέξαντά με ποσσὶν οὔτις ἔϑ᾽ ἱμείρων δράξεται ἐξόπιϑεν. ᵅ τοὔνεχ᾽ ὁ τεχνίτας σε διέπλασεν; ᵝ εἵνεκεν ὕμέων, ξεῖνε, καὶ ἐν προϑύροις ϑῆκε διδασκαλίην.

1

„A: Was, woher ist der Bildhauer? B: Sikyonien. A: Was ist sein Namen? B: Lysippos. A: Du aber, wer bist Du? B: Kairòs, der Allbezwinger. A: Was denn, du gehst auf der [Zehen]Spitze? B: Ich renne immer rasch. A: Was für doppelte Flügel hast du an den Füßen? B: Ich fliege schnell wie der Wind. A: In der rechten Hand – warum trägst du ein Rasiermesser? B: Den Menschen ist es Beweis, wie haarscharf die rechte Zeit für alles ist. A: Aber das Haupthaar, was ist das für ein Blick darunter? B: Um ergriffen zu werden durch den, der mir begegnet, beim Zeus! A: Wozu beliebt es dir hinten kahl zu sein? B: Ja, den Moment, an dem sie einmal an mir (dem mit den befiederten Füßen) vorbei liefen, vermag niemand, der sich danach sehnt, noch im Rückgriff zu erreichen. A: Weshalb hat der Künstler dich gestaltet? B: Wegen Euch, Fremder, und zur Belehrung stellte er mich in den Vorhof.“ (MÜ)

Kairos ist hier dargestellt als der Gott der Gelegenheit, die es buchstäblich beim Schopf zu packen gilt und die man um Haaresbreite unwiderruflich verpassen kann. In diesem Sinn verwendete ihn auch Pindar (6./5. Jh. v. Chr.) in seinen Oden auf die Sieger der pythischen Spiele:

ὁ γὰρ καιρὸς πρὸς ἀνθρώπων βραχὺ μέτρον ἔχει.

(Pindar, Pyth. IV,509)

„Denn der Kairos hat für die Menschen ein kurzes Maß“. (MÜ)

Ebenso Platon (5./4. Jh. v. Chr.), Theaitetos 187a:

ΣΩ. ὀρθῶς ὑπέμνησας: ἴσως γὰρ οὐκ ἀπὸ καιροῦ πάλιν ὥσπερ ἴχνος μετελθεῖν.
(Ed. Burnet)

„Sokrates: Zu Recht hast Du [das] in Erinnerung gebracht: Denn in gleicher Weise ist es nicht der falsche Zeitpunkt, um noch einmal sozusagen der Spur zu folgen.“ (MÜ)

Doch wie sieht es mit der Bedeutung dieses Wortes in der Bibel aus?
Gerhard Delling (1905-1986) schrieb im Theologischen Wörterbuch zum NT zur Bedeutung des Kairos im Neuen Testament:


Der (schicksalhaft) entscheidende Zeitpunkt
, außer Ag 24,25 immer unter scharfer (wenn auch nicht immer ausgesprochener) Betonung der göttlichen Bestimmtheit; doch tritt im NT, dem nt.lichen Gottesbegriff entsprechend, deutlicher die überreiche, ganz unerrechenbare, völlig geschenkweise Güte Gottes in der Gabe des καιρός und der richtende, das Verfehlte unwiederbringlichmachende Ernst in seiner Forderung zutage. (ThWNT III (1938) S. 461)

Und Oscar Cullmann (1902-1999) argumentierte ebenfalls in diesem Sinn, wenn er in seinem Buch „Christus und die Zeit“ schrieb:

Kairos ist im profanen Gebrauch die zeitlich besonders günstige Gelegenheit für ein Unternehmen, der Zeitpunkt, von dem man lange vorher schon spricht, ohne sein Datum zu kennen, der Termin, den man im modernen Jargon etwa den Tag D heißt. Menschliche Erwägungen sind es, die einen Zeitpunkt zur Ausführung dieses oder jenes Vorhabens als besonders geeignet erscheinen lassen, also zu einem Kairos machen. In diesem profanen Sinne sagt Felix zu Paulus (Apgsch. 24, 25): „Wenn ich gelegene Zeit bekomme, werde ich dich rufen lassen.” Der heilsgeschichtlich neutestamentliche Gebrauch ist der gleiche. Nur sind es hier nicht menschliche Überlegungen, sondern es ist eine göttliche Entscheidung, die dieses oder jenes Datum zu einem Kairos macht, und zwar im Hinblick auf die Ausführung des Heilsplanes Gottes. Weil die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes an solche von Gott ausgewählte Zeitpunkte, Kairoi, gebunden ist, darum ist sie eine Heilsgeschichte.
(3. Auflage 1962 S. 51)

Die entscheidende Frage ist, ob diese Erklärungen wirklich die Bedeutung des Wortes im klassischen wie biblischen Griechisch angemessen wiedergeben. Bevor ich diese Frage zu beantworten versuche, will ich noch einen kurzen Blick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Deutungen von Delling und Cullmann werfen.

Gerhard Delling gehörte zu den Nazis unter den Autoren des ThWNT, er arbeitete am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben und machte aus seinem Artikel ein eigenes Buch, „Das Zeitverständnis des Neuen Testaments“, publiziert 1940. Es trug ihm das Lob eines anderen Nazis, Walter Grundmann ein, der in seiner Rezension schrieb:

Die ersten beiden Teile untersuchen „die Zeitauffassung des Griechentums“ und „das Zeitgefuhl in alttestamentlichem und jüdischem Schrifttum“. Dabei werden bedeutsame Unterschiede sichtbar, die der Verfasser mit Recht aus rassisch-volkhafter Verschiedenheit erklärt …

(Walter Grundmann, in: Theologische Literaturzeitung, Band 67 (1942) S. 30)

Das sollte zu denken geben. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Cullmann in seinem Buch auf den D-Day verweist. N.T. Wright hat in seiner Werk „Paul and his recent Interpreters“ darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die reale Geschichte den „heilsgeschichtlichen“ Ansatz von Cullmann überschattet hat2. Aber wenden wir uns der Philologie zu.

Die Bedeutungen des
Wortes im Griechischen

James Barr hat darauf aufmerksam gemacht3, dass Kairos schon im klassischen Griechisch eine breitere Bedeutung als nur die des günstigen Augenblicks hatte. So heißt es in dem (wohl fälschlicherweise) Aristoteles zugeschriebenen Werk Ἀθηναίων πολιτεία (= der Staat der Athener) aus dem 4. Jh. v. Chr.

καὶ ἐπολιτεύθησαν Ἀθηναῖοι καλῶς καὶ κατὰ τούτους τοὺς καιρούς. (XXIII,2)

„Und die Athener wurden während diesem Zeitabschnitt auch gut regiert.“ (MÜ)

In diesem Sinn findet sich das Zitat auch im Liddell/Scott

Hinweis Kairos im Liddell/Scott
Hinweis Kairos im Liddell/Scott

und so hat es auch Kenyon übersetzt.

Barr konzediert, dass man hier auch mit „in diesen kritischen Zeiten“ übersetzen könnte, trotzdem bleibt es doch bemerkenswert, dass die angeblich einmalige Gelegenheit hier in der Mehrzahl gebraucht wird. Das Lexikon bietet eine Fülle weiterer Stellen, in denen die oben geschilderte Bedeutung von „entscheidender Zeit“ sich als viel zu eng erweist. Das gilt um so mehr, je näher wir der Zeit des Neuen Testamentes kommen.

Ich beginne mit einem Zitat von Polybios (um 200 – ca. 120 v. Chr.):

κατὰ δὲ τὸν καιρὸν τοῦτον οἱ δέκα πρεσβευταὶ καὶ [ὁ] βασιλεὺς Εὐμένης εἰς Ἔφεσον κατέπλευσαν … (Polyb. 21.42.6)

„Um diese Zeit landeten die zehn Gesandten und [der] König Eumenes in Ephesus“. (MÜ) 4

Oder in der Weltgeschichte des Diodoros Sikulos (1. Jh. v. Chr.):

κατὰ δὲ τοῦτον τὸν καιρὸν τὸν Ἡρακλέα τελοῦντα τὸν ὕστατον ἆθλον Ἀνταῖον μὲν ἀνελεῖν ἐν τῇ Λιβύῃ τὸν συναναγκάζοντα τοὺς ξένους διαπαλαίειν … (4.27.3)

„Zu dieser Zeit, als Herakles seinen letzten Kampf vollbrachte, denn er erhob/beseitigte Antaios in Libyen, der die Fremden nötigte, [mit ihm] zu ringen …“ (MÜ)

Auch die englische Übersetzung von Charles Henry Oldfather übersetzt hier „about this time“.

Kairos wird hier gleichbedeutend mit chronos und bedeutet so viel wie Zeit. Bereits 1904 veröffentlichte Karl Dieterich in der Zeitschrift „Rheinisches Museum für Philologie“ einen Artikel über die Bedeutungsgeschichte griechischer Worte5, in dem er zeigen konnte, dass es zu „der Anpassung von καιρός an χρόνος“ kam6. Wie sieht es bei den biblischen Texten aus?

Der biblische Befund

Bereits in der Septuaginta werden Kairos und Chronos als austauschbare Begriffe verwendet:

Koh 3,1 lautet im masoretischen Text:

לַכֹּל זְמָן וְעֵת לְכָל־חֵפֶץ תַּחַת הַשָּׁמָֽיִם׃

„Für alles [gibt es] eine Stunde und einen Zeitpunkt für jedes Vorhaben unter dem Himmel.” (MÜ)

Diesen Parallelismus membrorum übersetzt die Septuaginta so:

τοῖς πᾶσιν χρόνος καὶ καιρὸς τῷ παντὶ πράγματι ὑπὸ τὸν οὐρανόν.

„Für alles gibt es eine Zeit (Chronos) und einen Zeitpunkt (Kairos) für jedes Geschehen unter dem Himmel.“ (MÜ)

Nachdem hier dieselbe Aussage mit unterschiedlichen Worten wiederholt wird, ist deutlich, dass Kairos und Chronos Synonyme sind. Auch im Neuen Testament begegnet uns καιρός im Sinne von χρόνος.

Mt 14,1:
¹ Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ ἤκουσεν Ἡρῴδης ὁ τετραάρχης τὴν ἀκοὴν Ἰησοῦ

„In jener Zeit hörte Herodes der Tetrarch, das Gerücht über Jesus.“ (MÜ)

So auch die Vulgata: In illo tempore audiit Herodes tetrarcha famam Iesu.

Offb 12,12:
διὰ τοῦτο εὐφραίνεσθε, [οἱ] οὐρανοὶ
καὶ οἱ ἐν αὐτοῖς σκηνοῦντες.
οὐαὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν,
ὅτι κατέβη ὁ διάβολος πρὸς ὑμᾶς
ἔχων θυμὸν μέγαν,
εἰδὼς ὅτι ὀλίγον καιρὸν ἔχει.

„Deshalb freut euch, Himmel, und die in ihnen zelten. Wehe der Erde und dem Meer, denn der Verleumder ist zu euch herabgestiegen, er hat einen großen Zorn, weil er weiß, dass er nur wenig Zeit hat.“ (MÜ)

Umgekehrt kann Chronos im Sinn von einem „bestimmten Zeitpunkt“ verwendet werden:

Mt 2,7:
Τότε Ἡρῴδης λάθρᾳ καλέσας τοὺς μάγους ἠκρίβωσεν παρ’ αὐτῶν τὸν χρόνον τοῦ φαινομένου ἀστέρος

„Danach rief Herodes heimlich die Magier (= die persischen Weisen), er erfragte von ihnen genau den Zeitpunkt der Erscheinung des Sterns.“ (MÜ)

Apg 7,17
Καθὼς δὲ ἤγγιζεν ὁ χρόνος τῆς ἐπαγγελίας ἧς ὡμολόγησεν ὁ θεὸς τῷ Ἀβραάμ, ηὔξησεν ὁ λαὸς καὶ ἐπληθύνθη ἐν Αἰγύπτῳ

„Als aber der Zeitpunkt der Verheißung nahekam, die Gott dem Abraham versprochen hatte, wurde das Volk groß und vermehrte sich in Ägypten.“ (MÜ)

Apg 1,7:
εἶπεν δὲ πρὸς αὐτούς· οὐχ ὑμῶν ἐστιν γνῶναι χρόνους ἢ καιροὺς οὓς ὁ πατὴρ ἔθετο ἐν τῇ ἰδίᾳ ἐξουσίᾳ

„Er sprach zu ihnen: Es ist nicht eure [Sache]7, Zeiten oder Zeitabschnitte zu wissen, die der Vater in der ihm eigenen Vollmacht festgesetzt hat.“ (MÜ)

Cyprian von Karthago (gestorben 258 n. Chr.) las in seiner altlateinischen Bibel Nemo potest cognoscere tempus aut tempora, quae pater posuit in sua potestate. (Ad Quirinium 89, CCSL III,1 S. 166), die griechische Vorlage könnte nach Friedrich Blass‘ Ausgabe des westlichen Textes der Apg χρόνον ἢ χρόνους gelautet haben. Für die „Grammatik des Neutestamentlichen Griechisch“ desselben Autors handelt es sich beim dem Wortpaar Kairos und Chronos an dieser Stelle um Synonyme (§ 77,11).

Friedrich Blass - Synonyma
Friedrich Blass – Synonyma

Fazit

Die von Delling im ThWNT behauptete grundsätzliche Bedeutung von Kairos im NT als „entscheidender Zeitpunkt“ trifft einfach nicht zu. Sein problematischer weltanschaulicher Hintergrund tritt deutlich zu Tage, wenn er Mk 1,15 als jesuanische, gleichsam kairologische Kritik am Unglauben der Juden interpretiert 8,
ein Vers, der damit nicht das Geringste zu tun hat.

καὶ λέγων ὅτι πεπλήρωται ὁ καιρὸς καὶ ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ· μετανοεῖτε καὶ πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ.

„Und er sagte, dass die Zeit erfüllt und nahegekommen ist die Königsherrschaft Gottes: ändert euren Sinn und vertraut auf die frohe Botschaft.“ (MÜ)

Das Verb plēróō – „vollmachen, füllen“ kann sich gerade nicht auf einen entscheidenden Moment beziehen, sondern nur auf einen Zeitraum. Kairos bedeutet auch hier eben Chronos. 9

Nachtrag: Ein Blick in die traditionellen Bibelauslegung

In der alten Kirche war diese Fragestellung bereits bekannt, die entsprechende Übersetzung bei Cyprian haben ich oben schon erwähnt. Ein weiterer afrikanischer Bischof hat sich ganz explizit zu dieser Thematik geäußert, Ausgangspunkt war wiederum der schon übersetzte Vers Apg 1,7.

Hinter der Aussage des Auferstandenen Christus in Apg 1,7 stehen die Verse Dan 2,21 und 7,1210 in ihren griechischen Fassungen.

καὶ αὐτὸς ἀλλοιοῖ καιροὺς καὶ χρόνους, μεθιστῶν βασιλεῖς καὶ καθιστῶν, διδοὺς σοφοῖς σοφίαν καὶ σύνεσιν τοῖς ἐν ἐπιστήμῃ οὖσιν· (Dan 2,21 LXX)

„Und er [= der HERR] ändert Zeitabschnitte und Zeiten, indem er Könige einsetzt und absetzt, wobei den Weisen Weisheit gibt und Wissen denen, die in einer Wissenschaft sind.“ (MÜ)

καὶ τοὺς κύκλῳ αὐτοῦ ἀπέστησε τῆς ἐξουσίας αὐτῶν, καὶ χρόνος ζωῆς ἐδόθη αὐτοῖς ἕως χρόνου καὶ καιροῦ. (Dan 7,12 LXX)

„Und er [= der Alte der Tage aus Dan 7,9] entfernte die um ihn herum von ihrer Vollmacht, und Lebenszeit wurde ihnen überlassen bis zu einer Zeit und zu einem Zeitpunkt.“ (MÜ)

Interessanterweise übersetzte Theodotion das aramäische עד־זמן ועדן („bis zur Stunde und zum Zeitabschnitt“) so:

καὶ τῶν λοιπῶν θηρίων ἡ ἀρχὴ μετεστάθη, καὶ μακρότης ζωῆς ἑδόθη αὐτοῖς ἕως καιροῦ καὶ καιροῦ.

„Und den übrigen wilden Tieren wurde die Herrschaft weggenommen und Lebenslänge wurde ihnen überlassen, eine Zeit und eine Zeit.“ (MÜ)

Theodotion verwendet hier also, statt Chronos und Kairos wie die LXX, zweimal Kairos.

Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.) führt zu dieser Stelle aus:

(2) Quod enim alio loco ait: De die autem et hora nemo scit, sunt qui sic accipiunt, ut putent se posse tempora computare; diem uero tantum modo ipsum et horam neminem scire. ubi omitto dicere, quem ad modum soleant scripturae diem uel horam etiam pro tempore ponere. sed certe illud de ignorantia temporum apertissime dictum est. nam cum dominus hinc interrogatus esset a discipulis suis: Nemo, inquit, potest cognoscere tempora, quae pater posuit in sua potestate. non enim dixit ‚diem‘ uel ‚horam‘ sed 'tempora', quae in breui spatio non solent dici sicut dies uel hora, maxime, si Graecum intueamur eloquium, ex qua lingua in nostram eundem librum, ubi hoc scriptum est, scimus esse translatum, quamuis Latine satis exprimi non potuerit. ibi enim Graece legitur χρόνους ἢ καιρούς. nostri autem utrumque hoc uerbum tempora appellant siue χρόνους siue καιρούς, cum habeant haec duo inter se non neglegendam differentiam. χαιροὺς quippe appellant Graeci tempora quidem, non tamen quae in spatiorum uoluminibus transeunt, sed quae in rebus ad aliquid importunis uel opportunis sentiuntur sicut messis, uindemia, calor, frigus, pax, bellum et si qua similia; χρόνους autem ipsa spatia temporum uocant. (Ep. CXCVII,2; CSEL 57, S. 232 f.)

„Denn was er an anderer Stelle sagt: Von Tag aber oder Stunde weiß niemand (Mk 13,32), da gibt es welche, die das so auffassen, dass sie glauben, sie könnten die Zeiten berechnen. Lediglich den Tag selbst und die Stunde wisse in der Tat niemand. Wobei ich es unterlasse zu sagen, auf welche Weise die Schriften es gewohnt sind, „Tag“ oder „Stunde“ auch für „Zeit“ zu verwenden. Aber mit Sicherheit ist das über die Unkenntnis der Zeiten mit größter Klarheit gesagt worden. Denn als der Herr darüber von seinen Schülern befragt wurde, sagt er: Niemand kann die Zeiten erkennen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. (Apg 1,7) Denn er sagte nicht „Tag“ oder „Stunde“, sondern Zeiten, die gewöhnlich nicht für eine kurzen Zeitraum wie „Tag“ oder „Stunde“ zur Verwendung kommen, vor allem wenn wir auf die griechische Ausdrucksweise schauen. Denn wir wissen, dass dasselbe Buch, wo das geschrieben steht, aus dieser Sprache in die unsere übersetzt wurde, obgleich es auf Latein nicht so recht ausgedrückt werden kann. Denn dort wird auf Griechisch χρόνους ἢ καιρούς gelesen. Unsere [Ausgaben der Apostelgeschichte] aber bezeichnen beide, sei es χρόνους, sei es καιρούς mit diesem Wort „Zeiten“, dabei haben diese beiden untereinander einen nicht gering zu schätzenden Unterschied. Denn die Griechen bezeichnen mit χαιροὺς bestimmte Zeiten, aber nicht die, die in den Kreisläufen der Zeiträume vorübergehen,
sondern die in Ereignissen, die als etwas Beschwerliches oder Günstiges empfunden werden, wie Ernten, Weinlesen, Hitze, Kälte, Frieden, Krieg und dergleichen. Aber χρόνους nennen sie den Zeitraum [=die Dauer] der Zeiten selbst. (MÜ)

Der Kirchenvater fährt dann fort:

Et certe hoc ipsi apostoli non ita quaesiuerunt, quasi unum nouissimum diem uel horam, id est exiguam diei partem scire uoluissent, sed utrum iam esset opportunum tempus, quo regnum repraesentaretur Israhel. tunc audierunt: Nemo potest cognoscere tempora, quae pater posuit in sua potestate, id est χρόνους ἢ καιρούς. quod si Latine diceretur ‚tempora aut opportunitates‘, nec sic, quod dictum est, esset expressum, quia, siue opportuna siue importuna sint tempora, χαιροὶ dicuntur. tempora ergo computare, hoc est χρόνους, ut sciamus, quando sit finis huius saeculi uel aduentus domini, nihil mihi aliud uidetur quam scire uelle, quod ipse ait scire neminem posse. (Ep. CXCVII,3; CSEL 57, S. 233)

„Und sicherlich haben die Apostel selbst dies nicht so gefragt, dass sie gleichsam den einen letzten Tag oder [die eine letzte] Stunde, das bedeutet einen kleinen Teil des Tages, wissen wollten, sondern ob schon die gelegene Zeit da sei, in der das Königtum Israels sogleich herbeigeführt würde. Da bekamen sie zu hören: Niemand kann die Zeiten wissen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat (Apg 1,7), das bedeutet [eigentlich] χρόνους ἢ καιρούς. Wenn das auf Latein so gesagt würde: ‚Zeiten oder Gelegenheiten‘, würde so nicht zum Ausdruck kommen, was gesagt worden ist, weil die Zeiten, die sowohl günstig als auch beschwerlich sind, χαιροὶ genannt werden. Also Zeiten zu berechnen – das eben bedeutet χρόνους – damit wir wissen können, wann das Ende dieser Welt oder die Ankunft des Herrn sei, scheint mit nichts anderes zu sein, als [etwas] wissen zu wollen, von dem er selbst gesagt hat, dass niemand es wissen kann.

Zu beachten ist, dass Augustinus hier gegen Christen argumentiert, die mit Hilfe der Schriften errechnen wollen, wie weit der Tag des Herrn noch entfernt ist, auch wenn sie zugeben, dass dabei ein konkretes Datum oder eine genaue Uhrzeit als Ergebnis nicht möglich seien. Dem Kirchenvater geht es aber nicht um die biblische Bedeutung des Kairos überhaupt – den er ständig nur im Plural zitiert – sondern um die Zurückweisung des beschriebenen Endzeit-Enthusiasmus. Zu dem von Augustinus genannten Beispiel der Ernte passt Mk 11,13:

καὶ ἰδὼν συκῆν ἀπὸ μακρόθεν ἔχουσαν φύλλα ἦλθεν, εἰ ἄρα τι εὑρήσει ἐν αὐτῇ, καὶ ἐλθὼν ἐπ’ αὐτὴν οὐδὲν εὗρεν εἰ μὴ φύλλα· ὁ γὰρ καιρὸς οὐκ ἦν σύκων.

„Und als er von weitem einen Feigenbaum sah, der Blätter hatte, kam er, ob er wohl etwas an ihm finden werde; und als er zu ihm kam, fand er nichts außer Blätter, denn es war nicht die Zeit der Feigen.“ (MÜ) Hier wird Kairos im Singular verwendet.

Interessant ist, dass Eusebius Hieronymus (um 347 bis 419/420) den fraglichen Ausdruck in Apg 1,7 mit tempora vel momenta übersetzt hat, also mit „Zeiten oder Augenblicken“.

Über ein Jahrtausend später identifiziert Hugo Grotius (1583-1645) unsere Stelle als Hendiadyoin, das eine genau festgesetzte Zeit bezeichnen soll.

Hugo Grotius zu Apg 1,7
Hugo Grotius zu Apg 1,7

Auch bei diesem hochgebildeten Mann ist hier keine Rede von einer grundsätzlich anderen Bedeutung von kairos im Vergleich zu Chronos, ganz im Gegenteil.

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  1. Anthologia Graeca sive, Poetarum graecorum lusus ex recensione Brunckii. Indices et commentarium adiecit Friedericus Jacobs II, S. 49
  2. Paul and his recent Interpreters. Some contemporary Debates (2015) S. 48 ff. Ich meine, dass Wright als Brite diesen Aspekt deutlicher wahrgenommen hat, als jemand aus dem deutschen Sprachraum.
  3. Vgl. James Barr: Biblical Words for Time (1962) S. 32f.
  4. So lautete auch die Übersetzung von Adolf Haakh.
  5. Rheinisches Museum für Philologie, Neue Folge LIX (1904) S. 226 ff.
  6. Ebenda S. 234
  7. Vgl. Blass § 35,2
  8. ThWNT III, S. 461
  9. So auch Barr (S. 42 a.a.o.), der als weitere Beispiele Lk 21,24; Apg 1,7; 17,26; Eph 1,10; 1 Thess 5,1; 1 Tim 2,6; 6,15; Tit 1,3; Hebr 9,10 nennt.
  10. So schon Hugo Grotius zur Stelle,

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