Ich finde dieses Buch aufschlussreich – besonders im Hinblick auf die Art von alttestamentlicher Exegese, die in ihm zu Wort kommt, als auch Jan Assmann selbst betreffend. Sein Motiv für die lange Diskussion, die er im Zusammenhang mit der Frage nach dem Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt in Gang gebracht hat, scheint mir jetzt deutlicher. 1
Von der Konfrontation zur Kooperation
Als ich 1999 nach der begeisterten Empfehlung eines Freundes »Moses der Ägypter« von Assmann las, war eine gewisse konfrontative Einstellung des Autors zur alttestamentlichen Wissenschaft spürbar, etwa wenn er ihr pauschal die Vertrautheit mit jüdischen Quellen absprach. 2 Doch Assmann hat sich seitdem in langen und ausführlichen Diskussionen der theologischen Gegenrede gestellt und hat auch die Größe, exemplarisch auf den Einspruch Norbert Lohfinks gegen seine ursprüngliche These zu verweisen. 3
Beim vorliegenden Buch ist er nun vollkommen zur Kooperation übergegangen: »Michaela Bauks, (…) Bernd Janowski, Othmar Keel, (…) Bernhard Lang und Konrad Schmid haben die Rohfassung des Manuskripts gelesen und zahlreiche Korrekturen, Ergänzungen und Literaturhinweise beigesteuert.« 4 Zahlreiche Hinweise in den Fußnoten bestätigen diesen Eindruck. Jan Assmann und ’seine Alttestamentler‘ haben zueinander gefunden. Eine Frucht dieser Kooperation ist der spezifische Zugang des Buches zum Thema.
Wellhausens Bart
Eine wichtige hermeneutische Grundentscheidung des Werkes führt uns direkt ins 19. Jh.: »Jeder, der beim Lesen der hebräischen Bibel seinen Blick auf etwas anderes als die diachrone Schichtung des Textes richten möchte, muss sich für eine Fassung entscheiden, die in seinen Augen ein sinnvolles Ganzes darstellt. Das war früher für viele der „Jahwist“ oder der J und E vereinigende „Jehovist“, und das ist für andere die kanonische Endgestalt des biblischen Textes. Für mich ist es in diesem Buch die Priesterschrift«. 5
Diese mit dem Kürzel »P« versehene literarische Schicht innerhalb der Tora geht auf die Quellenscheidung im 19. Jh. zurück, einer ihrer wichtigsten Vertreter war Julius Wellhausen (1844-1918). Auf seinen Spuren wandelnd, schildert Assmann die Komplexität der diachronen Forschung und lässt seine Leser und Leserinnen bewundernd wissen, dass Christoph Berner 2010 allein in den Kapiteln 1-18 des Buches Exodus »bis zu zwanzig sukzessive Ergänzungsstufen« 6 ausgemacht habe. Was dabei ein wenig untergeht, ist der Umstand, dass solche Versuche innerhalb der exegetischen Forschung von einem Konsens weit entfernt sind. Natürlich steht dem Autor diese Herangehensweise in seinem Buch frei, aber er stellt seine Positionen methodologisch damit ausdrücklich auf eine hypothetische Basis, die mir persönlich nicht mehr richtig taufrisch vorkommen will.
Ich kann in diesem Zusammenhang auf Hanna Liss verweisen, die in ihrem Beitrag zum Band 266 der »Quaestiones Disputatae« eine ketzerische Rückfrage gebracht hat: Ob die kritischen Unterscheidungen am Bibeltext, die noch ohne Kenntnis der Funde von Qumran vorgenommen wurden, 7 nicht bis heute »textlich auf ausgesprochen dünnem Eis« stünden? 8
Out of Egypt?
Im vierten Kapitel seines Werkes wird deutlich, warum das Thema der biblischen Exodus-Erzählung für den Ägyptologen Jan Assmann so wichtig ist: »Im kulturellen Gedächtnis aber hat diese Schilderung der hebräischen Leiden das Bild des Alten Ägypten für immer verdunkelt«. 9 Es tröstet ihn auch nicht, dass die biblische Rede von »Ägypten« und »Kanaan« keine historische Beschreibung der Zustände dieser Länder in altorientalischer Zeit anstrebt. Im Grunde genommen leidet Assmann unter dieser Identifizierung, kommt ihr aber auch gerne und willentlich zur Hilfe. Er sieht die biblische Schilderung als »reich an genuin ägyptischen Details«, 10 übersieht dabei aber, dass sie intensive assyrische Bezüge aufweisen: die »Vorratsstädte« etwa, die die Israeliten in Ex 1,11 bauen müssen, werden durch ein assyrisches Lehnwort (maškanu) bezeichnet. 11
Thomas Hieke hat in seinem grandiosen Kommentar zum Buch Levitikus herausgearbeitet, dass die Bestimmung Lev 18,3 – gemäß dem Gebrauch des Landes Ägypten, in dem ihr gewohnt habt, sollt ihr nicht handeln, und gemäß dem Brauch des Landes Kanaan, in das ich euch bringe, sollt ihr nicht handeln und nach ihren Satzungen sollt ihr nicht gehen – gerade eben nicht auf »Ägypten« oder »Kanaan« abzielt. 12 Ägypten ist eine Chiffre, und das macht eine ägyptologische Rückführung sicher nicht einfacher.
Die Perspektive des weißen Mannes
Mir ist aufgefallen, dass Assmann in seiner Gedächtnisgeschichte die Perspektive des weißen Mannes einnimmt: Exodus ist für ihn mit Kolonialismus, Imperialismus und Gewalt verbunden. 13 Hinter dem theologischen Konstrukt des »Exodus-Mythos« 14 stehe der Bund mit dem eifersüchtigen Gott, dessen Ambivalenz nach Assmann immer wieder in (erzählte) Gewalt ausbricht (Pinhas – der mörderische Priester!).
Es bleibt aus dieser Perspektive heraus rätselhaft, dass Menschen wie Martin Luther King, dessen friedlichen Widerstand gegen brutale, rassistische Gewalt aktuell der Film »Selma« in unsere Kinos gebracht hat, aus der Exodus-Tradition schöpfen konnten, ohne selbst gewalttätig zu werden. 15
Fazit
Im Buch ist viel von Eifersucht die Rede. Schon früher hat Jan Assmann JHWH als einen Gott beschreiben, »der sein Volk einschließen und abschirmen möchte wie ein orientalischer Ehemann«. 16 Kein Zweifel, dass der Verfasser damit eine biblische Bildsprache aufgreift – aber ist er selbst ganz frei von dieser Leidenschaft? Frappierend die dekretierende Tonart: »Hier geht es nicht um Dogmen und Wahrheitsfragen, sondern um die Ehre eines beleidigten Gottes, und da gibt es – bis heute – keine Toleranz.« 17
Aber: Was ist der Grund dafür, dass der herrliche Schiffskatalog aus dem zweiten Gesang der homerischen Ilias heute bedauerlicherweise außer Altphilologen niemand mehr zu interessieren scheint, während die literarisch ähnlich umfangreiche »Katalogdichtung« 18 zur Einrichtung des biblischen Bundeszeltes bis heute theologisch und existentiell bei Millionen von Menschen nachglüht? In »Exodus. Die Revolution der Alten Welt« werden Sie die Antwort nicht erfahren.
PS: »Exodus und Revolution«, von Michael Walzer schon 1985 zum Thema geschrieben, gefällt mir wesentlich besser.