Ein Mischna-Zitat im Koran

Ein Wort aus dem Koran ist in den letzten Wochen immer wieder zitiert worden: »Wer einen Menschen tötet, der hat die ganze Welt getötet.« Mir ist dabei aufgefallen, dass der Vers nie vollständig zitiert wurde – und dass dieses Wort aus der Mischna stammt, also aus der jüdischen Tradition.

In der Sure Al-Mãida (Das Mahl) heißt es:
»Deshalb haben WIR den Kindern Israils geboten, daß, wer einen Menschen tötet – nicht als Vergeltung für einen getöteten Menschen und nicht wegen Anrichten von Verderben auf Erden -, es so sei, als hätte er alle Menschen getötet, und wer ihm das Leben erhält, es so sei, als ob er der ganzen Menschheit das Leben erhalten hätte. Und gewiß, bereits kamen zu ihnen doch Unsere Gesandten mit den deutlichen Zeichen, dann sind viele von ihnen danach auf Erden gewiß des Maßes Überschreitende!« (Koran 5,32; Ü: Amir Zaidan, Hervorhebung von mir)

Das Zitat aus der Mischna

Der Koranvers besagt, dass Gott diese Aussage gegenüber den Kindern Israels getroffen hat, er findet sich allerdings nicht in der hebräischen Bibel, sondern in der Mischna. 1


שכל המאבד נפש אחת, מעלה עליו הכתוב כאלו אבד עולם מלא
.וכל המקים נפש אחת, מעלה עליו הכתוב כאלו קים עולם מלא

»dass jeder, der eine Person/ein Leben zerstört, dem wird es von der Schrift angerechnet, wie wenn er die ganze Welt zerstört hätte.
Und jeder, der eine Person/ein Leben erhält, dem wird es von der Schrift angerechnet, wie wenn er die ganze Welt erhalten hätte.« (mSanh IV,5; MÜ)

Der Kontext

Der Ausspruch fällt im Rahmen einer Belehrung von Zeugen, die in einem Prozess aussagen müssen, bei dem dem oder der Angeklagten die Todesstrafe droht. Dazu heißt es:


ה כיצד מאימין (את העדים) על עדי נפשות
היו מכניסין אותן ומאימין עליהן
שמא תאמרו מאמד, ומשמועה, עד מפי עד, ומפי אדם נאמן שמענו
או שמא אין אתם יודעין שסופנו לבדוק אתכם בדרישה ובחקירה
הוו יודעין שלא כדיני ממונות דיני נפשות
דיני ממונות, אדם נותן ממון ומתכפר לו
דיני נפשות, דמו ודם זרעיותיו תלוין בו עד סוף העולם
שכן מצינו בקין שהרג את אחיו, שנאמר (בראשית ד, י) דמי אחיך צעקים
אינו אומר דם אחיך אלא דמי אחיך, דמו ודם זרעיותיו
דבר אחר, דמי אחיך, שהיה דמו משלך על העצים ועל האבנים
לפיכך נברא אדם יחידי, ללמדך
שכל המאבד נפש אחת מישראל, מעלה עליו הכתוב כאלו אבד עולם מלא
וכל המקים נפש אחת מישראל, מעלה עליו הכתוב כאלו קים עולם מלא
ומפני שלום הבריות, שלא יאמר אדם לחברו, אבא גדול מאביך

»5. Wie verwarnt man die Zeugen wegen lebenswichtiger Aussagen?
Sind sie (in das Gericht) hereingebracht worden, dann verwarnt man sie:
»Vielleicht werdet ihr aus einer Vermutung heraus reden, oder vom Hörensagen, ein Zeuge vom Mund eines Zeugen, oder (ihr sagt) ‚wir haben es aus dem Mund eines glaubwürdigen Menschen gehört‘,
oder vielleicht wisst ihr nicht, dass wir euch am Ende kontrollieren werden, durch Nachfrage und durch Untersuchung.
Ihr solltet wissen, dass eine Rechtssache in Vermögensfragen nicht wie eine Rechtsfrage ist, in der es um das Leben (des Angeklagten) geht.
Bei einer Rechtssache in Vermögensfragen, kann ein Mensch (bei einer falschen Zeugenaussage) Geld zahlen, und es wird ihm Versöhnung geschenkt werden.
Bei einer Rechtssache, in der es um das Leben geht, wird euch sein (des Angeklagten) Blut und das Blut seiner Nachkommen bis zum Ende der Welt begleiten.
Denn wir finden bei (der Erzählung von) Kain, der seinen Bruder erschlug, dass geschrieben steht (Gen 4,10): Die Blute [im Hebräischen steht hier die Mehrzahl von »Blut«] deines Bruders schreien.
Es heißt nicht das Blut deines Bruders, sondern die Blute deines Bruders, (das bedeutet) sein Blut und das Blut seiner Nachkommen.
Eine andere Deutung: (es heißt) die Blute deines Bruders, weil sein Blut ausgegossen worden war über die Hölzer und über die Steine. 2
Deshalb wurde ein einzelner Mensch geschaffen, um Dich zu lehren:
dass jeder, der eine Person/ein Leben (von Israel) 3 zerstört, dem wird es von der Schrift angerechnet, wie wenn er die ganze Welt zerstört hätte.
Und jeder, der eine Person/ein Leben (von Israel) erhält, dem wird es von der Schrift angerechnet, wie wenn er die ganze Welt erhalten hätte.
Und wegen des Friedens der Leute, damit ein Mensch nicht zu seinem Gefährten sagen kann: (mein)Vater ist größer als dein Vater.« (m Sanh IV,5; MÜ)

Konsequenz

Aus dieser Vorgabe heraus lässt die Mischna eine große Skepsis bezüglich der Todesstrafe erkennen. Dafür kann ich auf diese bekannte Passage verweisen:


.סנהדרין ההורגת אחד בשבוע נקראת חבלנית
.רבי אלעזר בן עזריה אומר, אחד לשבעים שנה
.רבי טרפון ורבי עקיבא אומרים, אלו היינו בסנהדרין לא נהרג אדם מעולם
.רבן שמעון בן גמליאל אומר, אף הן מרבין שופכי דמים בישראל

»Ein Sanhedrin (=ein Gerichtshof), der einen Menschen in sieben Jahren hinrichten lässt, wird als zerstörerisch bezeichnet.
Rabbi Eleazar Ben Azarja sagte: einen in Siebzig Jahren!
Rabbi Tarfon und Rabbi Akiba sagten: wenn wir in dem Sanhedrin gewesen wären, wäre niemals ein Mensch hingerichtet worden.
Rabban Schimeon Ben Gamliel sagte: Sie (= Rabbi Tarfon und Rabbi Akiba) hätten auch das Blutvergießen in Israel vermehrt!« (mMakk I,10; MÜ)

Offene Fragen

Warum kommt die vom Koran selbst bezeugte Herkunft dieses wichtigen Wortes aus der jüdischen Tradition in der öffentlichen Diskussion nicht vor? Sie ist spätestens seit dem großen Abraham Geiger bekannt und findet sich natürlich auch in dem »Intertext-Inventar« (© Angelika Neuwirth) von Heinrich Speyers »Die biblischen Erzählungen im Koran«. 4

Spielt sie in der islamischen Auslegung ein Rolle? Muhammad Assad, der es wissen musste, erwähnt den Bezug in seinem Kommentar mit keinem Wort.

Was tut man mit der gewaltsam aufgeladenen Sprache im Kontext dieses Koran-Verses 5,32? Man lese etwa nur den Folgevers, um zu verstehen, dass die Berufung auf dieses Wort Extremisten nicht davon abhalten wird, weiter Menschen zu töten. Entscheidend ist doch wohl auch hier die Auslegung.

Mich beeindruckt dieser zutiefst humane Zugang der Mischna aus dem 2. Jh. (!), und ich will ihn zum Anlass nehmen, demnächst hier den Umgang mit der Todesstrafe in meiner eigenen lateinischen Tradition zu untersuchen.

Nachtrag vom 3. Jänner 2018: Susanne Plietzsch hat die besprochenen Mischna- Abschnitte in ihrem Blog einer eigehenden textkritischen Analyse unterzogen und ausgelegt.

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  1. Günter Stemberger setzt die »Kanonisierung« der Mischna ab der Mitte des 3. Jh. an. Vgl. Einleitung in Talmud und Midrasch8, S. 144
  2. Möglicherweise steht hinter »Hölzern und Steinen« die Frage, womit Kain seinen Bruder erschlug.
  3. Einige Handschriften lesen hier »von Israel«, obwohl die Argumentation von jedem Menschen spricht, da alle Menschen von Adam abstammen.
  4. Vgl. auch Der Koran. Kommentar und Konkordanz von Rudi Paret zur Stelle.

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