Wieso hält sich so hartnäckig das Gerücht, dass Jesus und Maria Magdalena ein Paar gewesen seien? Ich vermute ganz stark, dass das mit einer mittelalterlichen Auslegung zu tun hat, deren anhaltenden Wirkungsgrad man nicht unterschätzen sollte: der Legenda Aurea des Dominikaner-Bischofs Jacopo da Varagine († 1298).
Da Varagine, Bischof von Genua, schreibt in seiner Legendensammlung einen umfangreichen Beitrag zu Maria Magdalena, aus dem ich diesen von mir übersetzten Abschnitt zitiere; (die Fülle der biblischen Anspielungen und Zitate habe ich in den Fußnoten angegeben).
»Dies ist also jene Maria Magdalena, der der Herr so große Wohltaten erwies und so viele Beweise seiner Zuneigung zeigte. Denn er trieb sieben Dämonen von ihr aus1, in seiner Liebe entflammte er sie vollständig, er bestimmte sie zu seiner innigsten Vertrauten2, machte sie zu seiner Gastgeberin3 und wollte, dass sie ihn auf seinem Weg versorge4 und verteidigte sie immer gütig. Denn er verteidigte sie vor dem Pharisäer, der sie unrein nannte5, und vor ihrer Schwester, die sie als faul bezeichnete,6 auch vor Judas, der sie verschwenderisch nannte7. Als er sie weinen sah, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten8.
Aus Zuneigung zu ihr erweckte er ihren Bruder, der vier Tage im Grabe lag9; aus Liebe zu ihr befreite er ihre Schwester Martha vom Blutfluss, den sie Sieben Jahre lang standhaft zu ertragen hatte10; ihrer Verdiensten wegen machte er Martilla, die Sklavin ihrer Schwester würdig, jenes so schöne und so süsse Wort auszurufen: »selig der Leib, der dich getragen hat11«. Denn nach Ambrosius war jene Martha und diese ihre Sklavin.
Maria ist, sage ich, die Frau, die die Füße des Herrn mit Tränen wusch, mit den Haaren trocknete und mit Salböl einrieb12; die in der Zeit der Gnade zuerst feierliche Busse verrichtete, die den besten Teil erwählte13, die zu Füßen des Herrn sass und das Wort hörte;14 die das Haupt des Herrn salbte15, die beim Leiden des Herrn nahe beim Kreuz stand16, die die Salben bereitete, weil sie seinen Leichnam salben wollte17; die nicht wegging vom Grabmal wie die Jünger die weggingen18; der der auferstandene Christus zuerst erschien und sie zur Apostelin der Apostel machte19.« (Der lateinische Abschnitt befindet sich auf S. 408f., was S. 422f. der Datei entspricht.)
Auffällig ist die lyrische Sprache, in der Jacopo das innige Verhältnis von Maria und Jesus schildert. Allerdings ist festzuhalten, dass ein Großteil der von ihm zitierten Stellen sich eben nicht auf Maria aus Magdala bezieht, sondern auf namenlose andere Frauen bzw. auf Maria aus Betanien. Ich habe schon gezeigt, auf welche Vorarbeiten sich die Legenda Aurea (LA) hier stützen konnte.
Ein weiterer legendarischer Bericht aus dem Kapitel über Maria aus Magdala in der LA erzählt davon, dass sie nach Südfrankreich gegangen sei, und dort missioniert habe. Und damit sind wir bei einem Bestseller der Neuzeit angekommen. Dan Brown hat in seinem Werk »Sakrileg – The Da Vinci Code« aus dieser Nähe Jesu zu Maria und ihrem angeblichen Wirken in Südfrankreich den Plot für eine Verschwörungstheorie verfasst.
In Kapitel 54 ff. des Buches wird von einem Sir Leigh Teabing die Schlüssellegende des Buches enthüllt: Jesus habe mit Maria von Magdala einen Kind gezeugt, diese sei nach Jesu Kreuzigung mit ihrem Sohn nach Südfrankreich gegangen, aus der als Gral behüteten Blutlinie Jesu würden die Merowinger abstammen und ein Geheimbund würde über deren Nachkommen wachen. Ein Großmeister dieses Bundes sei Leonardo da Vinci gewesen, dessen Ende des 15. Jahrhunderts gemaltes »Letztes Abendmahl« den Lieblingsjünger zur rechten Jesu als Frau darstelle – dies sei ein klarer Hinweis auf Maria Magdalena …
Auf jeden Fall gibt Brown einen deutlichen Hinweis, woher er seine Story hat: wenn man die Buchstaben von »Leigh Teabing« etwas umstellt, erhält man den Namen Baigent Leigh. Und Michael Baigent und Richard Leigh waren die unermüdlichen Verfasser von haarsträubenden Bestsellern zu diversen Verschwörungstheorien ….
Um es deutlich zu sagen: mit dem, was das Neue Testament über Maria Magdalena erzählt, hat das alles nichts mehr zu tun. Aber ich wage die These, dass die exzessive Legendenbildung um diese biblische Frauengestalt den Boden für Dan Brown und Co. bereitet hat.
Eine Suchanfrage zu »Maria Magdalena« in einer Suchmaschine Ihres Vertrauens fördert einen unglaublichen Märchenwald zu Tage. Deshalb möchte ich im letzten Teil dieser Serie darauf zurückkommen, was sich exegetisch seriös über die Frau aus Magdala sagen lässt.