In der lateinischen Auslegungstradition hat Maria aus Magdala eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Galt sie bei Hippolyt von Rom († 235) noch als eine Apostelin der Apostel, so wurde sie einige Hundert Jahre später zu einer unglaublichen – wenn auch reuigen – Sünderin. Wie kam es dazu?
Ihren Ursprung hat die Vorstellung bei Papst Gregor dem Großen († 604). In seinen Büchern der Predigten über die Evangelien schreibt der Papst in seiner Auslegung zu Lk 7,36-50, wo eine namenlose Sünderin Jesus die Füße wäscht und salbt:
»Die aber, welche Lukas eine sündige Frau, Johannes aber Maria nennt [Joh 12,3], halten wir für jene Maria, von welcher Markus versichert, dass ihr sieben Dämonen ausgetrieben wurden [Mk 16,9; Lk 8,2= Maria Magdalena]. Und was wird mit diesen sieben Dämonen bezeichnet, wenn nicht sämtliche Laster? Denn da die ganze Zeit durch sieben Tage zusammengefasst wird, dann wird richtigerweise mit der Siebenzahl eine Gesamtheit bezeichnet. Sieben Dämonen also hatte Maria, die voll von allen Lastern war. Aber siehe: Weil sie die Flecken ihrer schändlichen Lebensweise ansah, lief sie, um sich zu waschen zu der Quelle der Barmherzigkeit und errötete auch nicht vor der Tischgesellschaft. Denn da sie sich in ihrem Inneren zutiefst schämte, meinte sie, es gebe nichts, wofür sie sich äusserlich schämen müsste.
Was also wundern wir uns, Brüder, ob der Herr, als Maria kommt, sie aufnimmt? Soll ich sagen, er nimmt sie auf oder – er zieht sie? Ich sollte besser sagen, er zieht sie und nimmt sie auf, da er sie sicherlich selbst in seiner Barmherzigkeit im Inneren an sich gezogen, sie äusserlich mit Sanftmut aufgenommen hat. Aber wenn wir jetzt den Text des heiligen Evangeliums durchlaufen, sollen wir auch die Reihenfolge beachten, in der sie gekommen ist, um geheilt zu werden.
Sie brachte eine Alabasterflasche von Salböl, stand hinten zu den Füßen Jesu und begann, seine Füsse mit Tränen zu benetzen; sie trocknete mit ihren Haaren seine Füsse, küsste sie und salbte sie mit dem Salböl.. (Lk 7,37c-38)
Es ist klar, Brüder, dass die Frau, die früher auf unerlaubte (unmoralische)Taten ausgerichtet war, das Salböl für den Duft ihres Fleisches selbst verwendete. Was sie also schändlich für sich verwendet hatte, das brachte sie jetzt Gott. Mit ihren Augen hatte sie Irdisches begehrt , nun aber beweinte sie zerknirscht und voll Reue ihre Augen. Die Haare hatte sie zur Zierde ihres Gesichtes verwendet, nun aber trocknete sie damit ihre Tränen. Mit dem Mund hatte sie hochmütig geredet, küsste aber die Füsse des Herrn und presste ihn auf die Fusssohlen ihres Erlösers. Wie viele Vergnügungen sie in sich hatte, so viele Opfer erlangte sie von sich. Sie verwandelte die Zahl ihrer Vergehen in die von Tugenden, um Gott mit Leib und Seele in Busse zu dienen, so weit sie schuldhaft von sich aus Gott verachtet hatte.« (MPL LXXVI 1239-1240 MÜ – entspricht S. 83 in der PDF-Datei).
So kann es gehen: aus der ersten Zeugin der Auferstehung, die bei den Synoptikern immer zu Beginn aller Frauenlisten steht (Mk 15,40-41.47; 16,1 par.; Lk 8,2-3; 24,10), wird eine exemplarische Sünderin, deren eigentliche Vergehen – ohne dass der Lukastext ein Wort dazu sagen würde – die weitere Auslegung im sexuellen Bereich suchte.