Die traditionellen Ausleger waren gründliche Leser der biblischen Texte – als moderner Mensch neige ich zu einer oft raschen und oberflächlichen Lektüre. So ist mir nie bewusst gewesen, dass in der Schöpfungserzählung von Gen 1 am zweiten Tag das »und Gott sah, dass es gut war« ausbleibt.
Die alten Bibelausleger stellten sich die Frage nach dem »warum« dieses Befundes. So hält Hieronymus zu Beginn seines Haggai-Kommentars fest: »Obwohl in Genesis schließlich nach Vollendung der einzelnen Werke am ersten Tag gesagt worden ist; und am dritten und am vierten und am fünften und am sechsten: Und Gott sah, dass es gut ist, steht es nicht am zweiten Tag, weder im Hebräischen noch bei Aquila, Symmachus oder Theodotion. Denn der zweite Tag, der eine Anzahl bewirkt, die von einer Einheit abtrennt, kann nicht durch das Urteil Gottes gebilligt werden, dass es gut sei. « (MPL XXV 1389 – meine verbesserte Übersetzung)
Was Hieronymus meint, wird durch die Überlieferung des gleichen Motivs im Midrasch Bereschit Rabba deutlich: »Warum fehlen beim zweiten Schöpfungstag die Worte khi tov [=dass es gut ist]? (…) Nach Rabbi Chanina, weil sich an diesem Tag die Trennung der Gewässer vollzog, denn es heißt: die Veste soll absondern Wasser vom Wasser (Gen 1,6). Rabbi Tabjomi sagte: Wenn nun schon bei einer solchen Trennung, welche zur Erhaltung der Welt und ihrer Bewohner diente, es nicht heißt, dass sie gut war, um wie viel weniger soll eine Trennung (Streitigkeit), welche Verwirrung in der Welt hervorbringt, so genannt werden.« (Bereschit Rabba IV zu Gen 1,7 – Übersetzung August Wünsche).
Offensichtlich geben sowohl der Kirchenvater als auch die Rabbinen hier eine alte Auslegungstradition (aus der Zeit des Zweiten Tempels?) wieder, ein schon vertrauter Vorgang.
Meine Quelle in diesem Fall: Heinrich Graetz: Hagadische Elemente bei den Kirchenvätern; in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 1854 Heft 8 S. 311 ff; der Artikel ist hier nachzulesen.