Gelegentlich treffe ich auf die Ansicht, dass die Bibel eigentlich mit schuld am Nahostkonflikt sei, da hier Israel von Gott ein Gebiet versprochen wurde, dass deutlich größer sei, als die völkerrechtlich anerkannten Grenzen des heutigen Staates Israel. Das würde es religiösen und/oder nationalistischen Fanatikern ermöglichen, immer mehr Land zu fordern und münde so praktisch in ethnische Säuberungen, wie beispielsweise im Ostjordanland. Ich möchte hier als Bibliker diesen Vorwurf an die Bibel überprüfen: Ist das wirklich so?
Gerne wird in diesem Zusammenhang die Verheißung an Abram zitiert, die sich in Gen 15,18 findet:
¹⁸ An jenem Tag schloss der HERR einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen habe ich dieses Land gegeben, vom Strom Ägyptens an bis zum großen Strom, dem Euphratstrom.
(Gen 15,18; Elberfelder)
Bedeutet das ein Groß-Israel, inklusive Ägyptens und dem heutigen Irak? Natürlich nicht, denn Abraham wird als der Vater vieler Völker (Gen 17,5), nicht nur des [späteren] Volkes Israel, genannt. Aber was ist dann mit Jos 1,4, wo den Kindern Israel Land vom Mittelmeer bis zum Euphrat versprochen wird? Ich würde mir in diesem Kontext gerne einen Abschnitt aus der Torah ansehen, der in der Argumentation zur Eingangsfrage eigentlich nie genannt wird, obwohl er die genaueste Beschreibung der Grenzen „Israels“ in der Bibel enthält.
Ich meine damit Num 34,1-12, indem der Umfang des Landes Kanaan beschrieben wird, in dem Israel entstehen sollte.
Wenn ihr in das Land Kanaan kommt, dann ist dies das Land, das euch als Erbteil zufallen soll; das Land Kanaan nach seinen Grenzen.
(Num 34,2; Elberfelder)
Wenn man dieses Kapitel aufmerksam liest, fallen einem mehrere Punkte auf:
- die genaue Lokalisierung vieler Orte ist heute unklar, es gibt keine einheitliche Zuschreibung
- das Ostjordanland ist in dieser Beschreibung nicht enthalten, da es bereits an zweieinhalb Stämme vergeben wurde (Num 34,13-15)
- der Nil und der Euphrat kommen nicht als Grenze vor
Die Raschi-Karte
Im Kontext der Auslegung dieses Kapitels ist es von Interesse, dass die vielleicht bedeutendste jüdische Autorität in Sachen Schriftauslegung, nämlich Raschi, zu diesem Text eine Skizze hinterlassen hat, eine Karte des Landes Kanaan/Israel. Sie findet sich in der wichtigsten Handschrift seines Kommentars zur Torah und sieht dort so aus.

Christliche Buchmaler halfen, diese Karte in einer Würzburger Handschrift noch deutlicher zu gestalten.

Ich habe die hebräischen Texte auf dieser Karte übersetzt, die verdeutlichen, dass sie nicht nach Norden, sondern nach Osten ausgerichtet ist.

Raschi lebte im 11. Jahrhundert in Nordfrankreich und im Rheinland (1040/41 – 1205) und hat die Gebiete, deren Grenzen er beschreibt, wohl nie gesehen. Warum waren ihm diese Details dann so wichtig?
Raschi hatte als alter Mann den ersten Kreuzzug (1096-1099) und die damit verbundenen Juden-Pogrome erleben müssen und er wollte den Anspruch auf das Land, das die Christen gewaltsam erobert hatten, nicht einfach aufgeben. Wichtiger aber noch war ein halachischer Grund, den er an den Anfang seines Kommentars zu Num 34 stellte:
זאת הארץ אשר תפל לכם וגו‘. לפי שהרבה מצות נוהגות בארץ ואין נוהגות בחוצה לארץ, הצרך לכתב מצרני גבולי רוחותיה סביב, לומר לך מן הגבולים הללו ולפנים המצות נוהגות (עי‘ גיטין ח‘)
Übersetzung: Dies ist das Land, das euch zufallen wird (Num 34,2); weil viele Gebote im Lande angehen und außerhalb des Landes nicht angehen, musste er die Grenzen des Gebietes von allen Seiten ringsum beschreiben, um dir zu sagen, innerhalb dieser Grenzen gehen die Gebote an.
(Ü: Selig Bamberger)
Deshalb war es ihm wichtig, die Grenzen zu zeichnen – und die entsprechenden Gebote im so definierten Land gelten, wer auch immer die politische Herrschaft über das Gebiet ausübt.
Erklärung der Karte
Wer an den sprachlichen Details kein Interesse hat, kann gleich zum Abschnitt „Fazit“ weitergehen. Ich habe hier die hebräischen Ausdrücke auf der Karte im Uhrzeigersinn übersetzt, danach wende ich mich dem Textblock in der Mitte der Karte zu.
- חוט מצר מזרחי = Linie legt die östliche Grenze fest
- ארץ כנען= Land Kanaan
- כאן נובע הירדן = Hier entspringt der Jordan
- שפמה = nach Schefam
- הרבלה = der [Ort] Riblah – zweite Hand: מקדם לעין= östlich von Ajin
- כתף ים כנרת קדמה = Abhang des Kinneret nach Osten
- ירדן = Jordan
- ים המלח = Salzmeer (= totes Meer)
- מקצה ים המלח שהוא קדמה – w. Zitat aus Num 34,3: am Ende des
Salzmeeres, das bedeutet nach Osten; es geht also um die südöstliche Grenze des Landes. - תוך ארבעה חוטין הללו היא ארץ ישראל = Innerhalb diesen vier Linien – das ist das Land Israel
- חוט מצר דרומי = Linie legt die südliche Grenze fest
- דרום = Süden – zweite Hand: הר ההר = Berg Hor
- צינה – entspricht wohl im MT צנה – mit H-Locativum: nach Zin
- ונסב הגבול ועבר צנה = und die Grenze macht eine Kurve (Nif. v. סבב)
und verläuft nach Zin - נחל יוצא = ein Bach entspringt; Petzold liest נחל עצא mit Fragezeichen – Bach Ezah
- מעלה עקרבים = Ma’aleh Akravim; Ortsbezeichnung, w. Anhöhe der
Skorpione - נגב למזלה עקרבים = südlich von der Anhöhe der Skorpione
- חצר אדר = Hazar-Addar; Ortsbezeichnung
- קדש ברנע= Kadesh Barnea; Ortsbezeichnung
- תוצאותיו מנגב לקדש ברנע = ihr weiterer Verlauf ist von Süden nach
Kadesh-Barnea - עצמון= Azmon
- ונסב הגבול = die Grenze macht eine Kurve
- נחל מיזרים = Bach Ägyptens
- חוט מצר מערבי = Linie legt die westliche Grenze fest
- זה הים הגדול = das ist das große Meer (= das Mittelmeer) – 2
Mal - צפון = Norden
- חוט מצר צפוני = Linie legt die nördliche Grenze fest
- הר ההר = Berg Hor
- טורי אמנון = Berge von Amnon
- צפון = Norden
- לבא חמת = Lebo Hamat
- צדדה = nach Zedad
- זפרון = Sifron
- חצר עינן = Hazar-Enan
- מערב = Westen
- קדמה = nach Osten
Der Textblock in der Mitte
הר ההר זה אוינו הר ההר שמת בו אהרן הכהן שהוא בדרומה של ארץ ישראל בקצה ארץ אדום וזהו בצפונה והוא קרוי בלשון משנה טורי אמנון ועלא שנינו במסכת גיטין איזהו ארץ ואיזהו חוצה לארץ כל ששופע ויורד מטורי אמנון ולפנים ארץ ישראל מטורי אמנון ולחוץ חוצה לארץ ונותן התנא סימן במימי הים שיש בים במקצוע הצפוני מקצתו בארץ ומקצתו חוצה לארץ לפי שההר נכנס לתוכו וכל הרים משופעים הם וההר הזה שופע ויורד לצפון ולדרום, משיפועו לדרום ארץ ישר‘ משיפועו לצפון חוצה לארץ לפי שההר מצר צפוני הוא לארץ והר ההר אין זה שֵם ההר אלא הר על גבי הר כמין תפוח
Hier meine Übersetzung:
Der Berg Hor, das ist nicht der Berg Hor, auf dem der Priester Aaron starb (Num 33,38), denn der ist im Süden des Landes Israel an der Grenze nach Edom. Und dieser [Berg, von dem die Rede ist,] ist im Norden. Und er wird in der Sprache der Mischnah die Berge von Amnon genannt [vgl. Raschis Kommentar zu Hld 4,8 – wo er auf bGit 8a verweist.] und darüber erklären sie im Traktat Gittin: „Was gehört zum Land [Israel] und was gehört zum Ausland? Alles, was sich senkt und von den Bergen Amnons herabgeht und weiter, ist Land Israel. [Und alles, was] von den Bergen Amnons und auswärts [führt], ist Ausland. Und der Tanna 1 gibt einen Hinweis [auf das Land] in den Wassern des Meeres, dass es im Meer einen nördlichen Winkel gibt, von seinem Ende [aus] ist man im Land [Kanaan], und von seinem Ende [aus] ist man außerhalb des Landes [Kanaan], weil der Berg in es [= das Meer] hineinragt und alle Berge sind abgeschrägt und dieser Berg neigt sich und geht nach Norden und zum Süden hinab. Von seinem Hang nach Süden ist das Land Israel, von seinem Hang nach Norden ist das Ausland, weil der Berg die nördliche Grenze für das Land darstellt. Aber der Berg Hor, das ist nicht der Namen des Bergs, sondern [der Namen für] ein[en] Berg auf dem Bergrücken, von der Art eines Apfels.
Zur Erklärung: Ausgangspunkt ist der Umstand, dass in Num 34,7-8 ein Berg Hor im Norden erwähnt wird, der aber nicht mit dem im Süden liegenden Berg identisch sein kann, der in Num 33,38 erwähnt wurde. Von diesem Berg aus wurde eine Linie gezogen (Num 34,7-8), um die Nordgrenze festzulegen. Raschi dazu in seinem Kommentar:
Die Nordgrenze, die Nordgrenze. Vom grossen Meere wendet euch zum Berge Hor, der sich in der Nordwestecke befindet und dessen Spitze schrag ins Meer abfallt, so dass sich die Breite des Meeres zum Teil innerhalb des Berges und zum Teil ausserhalb desselben befindet.
(Ü: Selig Bamberger)
Die Ausführungen über den vom Berg Hor ausgehenden Winkel erklären sich durch die entsprechenden Ausführungen in bGit 8a:
Hinsichtlich der Inseln im Meer denke man sich eine Schnur vom Gebirge Amnon bis zum Strom von Micrajim gezogen; von der Schnur einwärts gehört zum Jisraelland, von der Schnur auswärts gehört zum
Ausland.
(Ü: Lazarus Goldschmidt)
Die Wiedergabe von „Berg Hor“ mit den „Bergen von Amnon” geht auf das Jerusalemer Targum zu Num 34,8 zurück: טוורוס מנוס – was taurus (ταῦρος) amanus entspricht2. Was aber ist mit dem Berg auf dem Bergrücken, von der Art eines Apfels gemeint?
Der hebräische Ausdruck, den ich mit „Berg Hor“ wiedergegeben habe, lautet הר ההר – was sich auch mit „Berg der Berg“ übersetzen lässt; genau das ist auch die Übersetzung der LXX, die den Ausdruck mit ὄρος τὸ ὄρος (Num 34,7) wiedergibt. Ein Berg [namens] der Berg würde demnach hier als „Berg des Berges“3 interpretiert, also ein Berg auf einem Berg.
Fazit
Das Beispiel der Raschi-Karte macht deutlich, dass es keine Notwendigkeit gibt, die unterschiedlichen biblischen Aussagen über die Grenzen des Landes Kanaan/Israel im Sinn eines nationalistischen Groß-Israel vom Nil bis zum Jordan zu verstehen. Ich sehe daher auch keine Mitschuld der Bibel an den aktuellen Konflikten im Nahen Osten. Was ich beobachte, sind Auslegungen, die die originären Deutungen nicht kennen (wollen).
Literaturhinweise
Yigal Levin: Defining the Borders of the Land of Canaan – Numbers 34
Kai Joe Petzold: Die Kanaan-Karten des R. Salomo Ben Isaak (Raschi) – Bedeutung und Gebrauch mittelalterlicher hebräischer Karten-Diagramme
