Ein Mann der alten Kirche, der unglaublich viel geschrieben hat – und von dem unglaublich viel abgeschrieben wurde – war der große Origenes († 254). Bald nach seinem Tod begannen die origenistischen Streitereien, die letztendlich dazu führten, dass dieser »Riese« unter den Theologen als Häretiker bezeichnet wurde. Zu den Verteidigern des Origenes im Westen gehörte Rufin von Aquilea († 412) – dessen Freundschaft mit Hieronymus († 420) wegen dieser Frage zerbrach. Man könnte das Verhalten des Hieronymus gegen Origenes auf die Formel bringen: plagiieren und polemisieren. Rufin verteidigte das Andenken des großen Alexandriners – ein zentrales Argument seiner Verteidigung war die These – Häretiker hätten bei der Abschrift der zahlreichen Bücher des Origenes die Irrlehren eingefügt, gegen die Hieronymus und seine Verbündeten wüteten. Um seine Verteidigung plausibel zu machen, berief er sich auf einen Vorfall, der sich unter Papst Damasus in Rom zugetragen hatte:
»Ich werde noch ein solches Beispiel einer gemachten [Fälschung] hinzufügen, weil es gleichsam noch frisch im Gedächtnis ist (obwohl sehr altertümlich in seiner niederträchtigen Begehung) und weil es alle Erzählungen der Alten übertrifft. Als eine Beratung über die Wiederaufnahme der [Anhänger des] Apollinarius abgehalten wurde, vertraute Bischof Damasus die Abfassung eines Dokuments des kirchlichen Glaubens, dass sie, wenn sie mit der Kirche verbunden sein wollten, unterschreiben mussten, seinem Freund an – einem Priester und äußerst redegewandten Menschen. Dieser besorgte für ihn gewöhnlich diese Aufgabe.
Beim Diktieren dieses Dokumentes erschien es ihm notwendig im Zusammenhang mit der Inkarnation des Herrn von einem »homo dominicus« zu sprechen. Die [Anhänger] des Apollinarius waren durch diesen Ausdruck vor den Kopf gestoßen und begannen, den Ausdruck als Neuerfindung zu schmähen. Um sich und das, was er diktiert hatte zu verteidigen, begann er – durch die Autorität der alten katholischen Schriftsteller – die, welche ihn angegriffen hatten, zu widerlegen. Dabei geschah ihm, dass er einem von denen, die die Neuheit des Ausdrucks beklagten, in einem Buch des Bischofs Athanasius aufweisen wollte, dass der zur Diskussion stehende Ausdruck dort niedergeschrieben war.
Der, dem dieser Beweis geschah, schien überzeugt zu sein und bat, ihm den Kodex zu überlassen, damit er die anderen Unwissenden und Widersprechenden überzeugen könne. Nachdem er den Kodex empfangen hatte, ersann er eine ganz unerhörte Art der Fälschung. Er radierte die Stelle, an der jener Ausdruck geschrieben stand, aus – und schrieb dann den gleichen Ausdruck, den er ausradiert hatte, ein zweites Mal.
Der zurückgegeben Kodex wurde sorglos entgegengenommen. Es wurde wiederum eine Prüfung des gleichen Ausdrucks gewünscht. Zum Beweis wurde der Kodex aufgeschlagen; der zur Diskussion stehende Ausdruck wurde auch gefunden – allerdings an einer vorher gelöschten Stelle eingetragen! Dem, der einen solchen Kodex [als Beweis] vorgebracht hatte, wurde das Vertrauen entzogen, weil die gelöschte Stelle der Beweis für Verkehrtheit und Fälschung zu sein schien.«
Der Bericht findet sich in einem Nachwort Rufins zur Apologie des Origenes durch Pamphilus den Märtyrer aus dem Jahr 397, überschrieben mit: »Über die Fälschung der Bücher des Origenes«. Der erwähnte Priester, Sekretär des Papstes und Opfer dieses gefinkelten Betrugs war niemand anderer als – Hieronymus.
Literaturhinweis: Mark Vessey: The Forging of Orthodoxy in Latin Christian Literature: A Case Study; Journal of Early Christian Studies 4/1996