Reinkarnation im Neuen Testament?

Gelegentlich ist mir die Verschwörungstheorie begegnet, das Christentum habe ursprünglich eine Wiedergeburt im asiatischen Sinn (= Reinkarnation) gekannt, aber diese Auffassung sei von »der Kirche« aus ideologischen Gründen unterdrückt worden, habe sich aber im Neuen Testament erhalten. Ein genauerer Blick in den (griechischen) Text hilft – wie immer – weiter.

Joh 3,3-9

Die in diesem Zusammenhang gern zitierte Passage aus dem nächtlichen Gespräch Jesu mit dem Pharisäer Nikodemus in Joh 3 lautet in der aktuellen Luther-Übersetzung folgendermaßen:

3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, 1 so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann dies geschehen? (Joh 3,3-9; Ü: Luther 1984)

Der griechische Ausdruck, den die Luther- und Einheits-Übesetzung mit »von neuem geboren werden« übertragen, lautet auf Griechisch ἄνωθεν γεννᾶσθαι (ánōthen gennãsthai) und bedeutet wörtlich übersetzt: von oben gezeugt/geboren werden.

Das Wort ἄνωθεν (ánōthen) wird im NT verwendet, um zu beschreiben, wie der Vorhang im Tempel von oben (ánōthen) bis unten zerreißt (Mk 15,38), oder dass jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk von oben (ánōthen) – gemeint ist vom Himmel herab – kommt (Jak 1,17).

Dementsprechend ist in Joh 3 also nicht von einer Wiedergeburt, sondern von einer Geburt von oben die Rede. Diese Geburt geschieht ἐξ ὕδατος καὶ πνεύματος (ex hýdatos kai pneúmatos) aus Wasser und Geist. Die dann folgenden Aussagen des johanneischen Christus sind nur zu verstehen, wenn man weiß, dass πνεῦμα (pneuma) sowohl »Geist« als auch »Wind« bedeutet. Ein unübersetzbares Wortspiel.2

Zwischenfazit: Joh 3 spricht nicht von Reinkarnation, sondern von einer Geburt von oben, die durch Wasser und Geist – also durch die Taufe geschieht.

Mt 19,28

Hier wieder die Lutherübersetzung des Textes:

Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet bei der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels. (Mt, 1928; Ü: Luther 1984)

Was hier als »bei der Wiedergeburt« – in der EÜ als »wenn die Welt neu geschaffen wird« – übersetzt wird, heißt auf Griechisch ἐν τῇ παλιγγενεσίᾳ (en tē palingenesía) – »in der Wiedergeburt«. Aber der Kontext macht klar, dass es nicht um Reinkarnation geht, sondern um das abschließende Weltgericht, dass zu einer Erneuerung der Welt führen wird.

Tit 3,5

Derselbe Ausdruck findet sich auch im Titusbrief, hier in der Elberfelder Übersetzung:

4 Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Retter-Gottes erschien, 5 rettete er uns, nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit durch die Waschung 3 der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes. 6 Den hat er durch Jesus Christus, unseren Retter, reichlich über uns ausgegossen, 7 damit wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, Erben nach der Hoffnung des ewigen Lebens wurden. (Tit 3,4-7; Elberfelder)

Das griechische διὰ λουτροῦ παλιγγενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύματος ἁγίου (dià lutrũ palingenesías kai anakainṓseōs pneúmatos hagíu) bedeutet »durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung durch den Heiligen Geist«. Hier treffen wir also wieder auf das Motiv aus Joh 3 – auch hier ist nicht von Reinkarnation die Rede, sondern von der Taufe.

1 Petr 1,3+23

In der Schlachter 2000 Übersetzung:

3 Gelobt sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns aufgrund seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten (…) 23 denn ihr seid wiedergeboren 4 nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, durch das lebendige Wort Gottes, das in Ewigkeit bleibt. (1 Petr 1,3+23; Ü: Schlachter 2000)

Hier lautet das entscheidende Verb ἀναγεννάω (anagennáō) – das einmal im Aorist (V. 3) und einmal im Partizip Perfekt Passiv gebraucht wird. Es bedeutet: »wiedererzeugen« bzw. »wiedergeboren werden lassen«. Hier geschieht diese Wiedergeburt nicht durch die Taufe, sondern durch die Auferstehung Jesu von den Toten bzw. durch das lebendige Wort Gottes. Auch hier liegt keine Reinkarnation vor, sondern eine bildhafte Rede über die geistige Erneuerung des Christenmenschen durch die Auferstehung Jesu und das Wort Gottes.

Außer-christliche Parallelen

Schon 1920 setzte sich Adolf von Harnack in einem Aufsatz mit der religionsgeschichtlichen These auseinander, das Christentum habe diese Rede von der Wiedergeburt von den antiken Mysterien-Religionen übernommen. 5 Harnack stellt in seiner beeindruckenden Materialsammlung 6 fest: »Vergeblich sucht man in der marcionitischen und gnostischenTheologie des 2. Jahrhunderts nach der „Wiedergeburt“.« 7. Und er fasst den Ertrag seiner Untersuchung so zusammen: »Weder liegt hinter den NTlichen und nachapostolischen Schriftstellern eine Mysterienreligion, noch haben sie das Evangelium zu einer Mysterienreligion gemacht; wohl aber haben sie es durch Anschauungen, Bilder und Begriffe erläutert, die jenem großen Schatz entnommen waren, der der Septuaginta und der griechischen Mysteriosophie gemeinsam war.« 8 Einige solche Parallelen will ich hier aufzeigen.

Epiktet (ca. 55 – ca. 135 n. Chr.)

Dieser stoische Philosoph lehrt im ersten Buch seiner Lehrgespräche, wie man sich im Leben so verhält, dass man das Gefallen der Götter findet. Das verdeutlicht er in I,13,3 am Beispiel des gelassenen Umgangs mit einem Sklaven, der den Anweisungen seines Herrn nicht folgt und sogar für einen Auftrag nicht greifbar ist. Auf die Frage des Schülers, wie man es als Herr denn schaffen solle, in dieser Situation nicht zu explodieren, antwortet der stoische Lehrer streng:

ἀνδράποδον, οὐκ ἀνέξῃ τοῦ ἀδελφοῦ τοῦ σαυτοῦ, ὃς ἔχει τὸν Δία πρόγονον, ὥσπερ υἱὸς ἐκ τῶν αὐτῶν σπερμάτων γέγονεν καὶ τῆς αὐτῆς ἄνωθεν καταβολῆς;
(Epicteti Dissertationes ab Arriano digestae. Epictetus. Heinrich Schenkl. editor. Leipzig. B. G. Teubner. 1898, S. 49)

»Sklave, wirst du nicht deinen eigenen Bruder ertragen, der Zeus zum Ahnherrn hat, gerade so wie ein Sohn von dem gleichen Samen und der gleichen Abstammung 9 gezeugt worden ist?« (Epiktetos, Lehrgespräche I,13,3; MÜ)

Auch hier begegnet die göttliche Geburt von oben (ánōthen) – und wer denkt bei dieser Aussage nicht unwillkürlich an Phil 15-16, wo Paulus über den Sklaven Onesimus zu dessen Herrn Philemon sagt:

15 Denn vielleicht war er darum eine Zeit lang von dir getrennt, damit du ihn auf ewig wiederhättest, 16 nun nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen, der mehr ist als ein Sklave: ein geliebter Bruder, besonders für mich, wie viel mehr aber für dich, sowohl im leiblichen Leben wie auch in dem Herrn. (Phil 15-16; Ü: Luther 1984)

Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch im Buch Ijob:

13 Wenn ich das Recht meines Knechts missachtet und das meiner Magd im Streit mit mir, 14 was könnt ich tun, wenn Gott sich erhöbe, was ihm entgegnen, wenn er mich prüfte? 15 Hat nicht mein Schöpfer auch ihn im Mutterleib geschaffen, hat nicht der Eine uns im Mutterschoß gebildet? (Ijob 31,13-15; EÜ)

Talmud Bavli

In bSanh 19b heißt es:

אמר רבי שמואל בר נחמני א“ר יונתן
כל המלמד בן חבירו תורה מעלה עליו הכתוב כאילו ילדו
שנאמר (במדבר ג, א) ואלה תולדות אהרן ומשה
וכתיב ואלה שמות בני אהרן
לומר לך אהרן ילד ומשה לימד לפיכך נקראו על שמו

»Rabbi Schmuel bar Nachmani sagte, Rabbi Jonatan hat gesagt:
Jeder, der den Sohn seines Gefährten Tora lehrt, dem wird es von der Schrift angerechnet, als wenn er ihn [selbst] geboren hätte. 10
Denn es heißt in der Schrift (Num 3,1): Dies sind die Nachkommen Aarons und Moses
und es ist [direkt danach] geschrieben: Dies sind die Namen der Söhne Aarons [Num 3,2],
um dir zu sagen: Aaron zeugte und Mose lehrte, deshalb wurden sie unter seinem Namen genannt.« 11 (bSanh 19b, MÜ)

Fazit

Die »Geburt von oben«, die zweite Geburt oder Wiedergeburt war in der Welt und Umwelt der biblischen Verfasser ein gängiges Bild, um die Abstammung/Berufung von Gott als einen spirituellen Vorgang zu schildern, aber nicht Ausdruck eines Glaubens an die Reinkarnation.

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  1. Als Kommentar führt die Übersetzung an: d.h. wenn jemand nicht von neuem geboren wird (ebenso V. 5).
  2. Die Aussage von Joh 3,8 lautet: »Das Pneuma (der Wind/der Geist) weht wo er will – und du hörst seine Stimme/sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht.
  3. Die Elberfelder erklärt dazu: oder das Bad (der Wiedergeburt).
  4. Die Schlachter 2000 Übersetzung kommentiert hier: oder von neuem gezeugt
  5. Die Terminologie der Wiedergeburt und verwandterErlebnisse in der ältesten Kirche, in: Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Altchristlichen Literatur, 42. Band Heft 3, S. 97-143.
  6. Die ohne Griechisch-Kenntnisse nicht nachvollziehbar ist.
  7. Adolf v. Harnack S. 106 a.a.o.
  8. S. 142-143 a.a.o.
  9. Wörtlich: der Gründung von oben (ánōthen)
  10. Zur Übersetzung vgl. Jastrow S. 1082
  11. Vgl. Jastrow S. 712

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