Diese bekannte Aussage Jesu aus Mt 18,3 wird gerne im Sinne einer infantilen Glaubenspraxis ausgelegt. Ich habe für mich eine erwachsenere Auslegung entdeckt.
Weit verbreitet ist die Deutung, die sich schon bei Clemens von Alexandria (ca. 150 – 215) findet, der ausdrücklich sagt, dass Christus mit diesem Satz nicht allegorisch gesprochen habe: er verlange vielmehr einen kindlichen Glauben.
Ὅτι μὲν οὖν ἡ παιδαγωγία παίδων ἐστὶν ἀγωγή͵ σαφὲς ἐκ τοῦ ὀνόματος· λοιπὸν δέ ἐστι τοὺς παῖδας ἐπιϑεωρῆσαι͵ οὓς αἰνίττεται ἡ γραφή͵ εἶτα τὸν παιδαγωγὸν αὐτοῖς ἐπιστῆσαι. οἱ παῖδες ἡμεῖς· πολλαχῶς δὲ ἡμᾶς ἐξυμνεῖ πολυτρόπως τε ἀλληγορεῖ ὀνόμασι ποικίλοις τὸ ἀφελὲς τῆς πίστεως ἐξαλλάττουσα ἡ γραφή. ἐν γοῦν τῷ εὐαγγελίῳ· »σταϑείς«͵ φησίν͵ »ὁ κύριος ἐπὶ τῷ αἰγιαλῷ πρὸς τοὺς μαϑητάς (ἁλιεύοντες δὲ ἔτυχον) ἐνεφώνησέν [τε]͵ παιδία͵ μή τι ὄψον ἔχετε;« τοὺς ἤδη ἐν ἕξει τῶν γνωρίμων παῖδας προσειπών. »προσήνεγκάν τε αὐτῷ«͵ φησί͵ »παιδία« εἰς χειροθεσίαν εὐλογίας͵ κωλυόντων δὲ τῶν γνωρίμων͵ εἶπεν ὁ Ἰησοῦς »ἄφετε τὰ παιδία καὶ μὴ κωλύετε αὐτὰ ἐλϑεῖν πρός με· τῶν γὰρ τοιούτων ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.« τί βούλεται τὸ λεχϑέν͵ αὐτὸς διασαφήσει ὁ κύριος λέγων »ἐὰν μὴ στραφῆτε καὶ γένησϑε ὡς τὰ παιδία ταῦτα͵ οὐ μὴ εἰσέλϑητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν͵« οὐ τὴν ἀναγέννησιν ἐνταῦϑα ἀλληγορῶν͵ ἀλλὰ τὴν ἐν παισὶν ἁπλότητα εἰς ἐξομοίωσιν παρακατατιϑέμενος ἡμῖν.
»Dass die Erziehung (paidagōgía) die Führung/Anleitung (agōgḗ) der Kinder (paĩs) ist, geht deutlich aus dem Namen hervor: es bleibt mir noch übrig, die Kinder zu betrachten, die die Schrift dunkel andeutet, und ihnen folglich die Erziehung anordnet. Die Kinder sind wir: die Schrift besingt uns auf vielfache Art, vielgestaltig redet sie allegorisch mit kunstvollen Namen, indem sie so der Schlichtheit des Glaubens eine andere Richtung gibt. Jedenfalls heißt es im Evangelium: »Als der Herr sich auf den Strand gestellt hatte, rief er den Jüngern (die eben gerade dabei waren, zu fischen) zu: ‚Kinder, habt ihr nicht etwas als Beilage (zum Essen)?’« (Joh 21,4-5 – frei zitiert). Er nannte die Kinder, die bereits den Status von Freunden hatten. Es heißt: »Und sie brachten ihm Kinder« (Mt 19,13) um sie durch Handauflegung 1 zu segnen, aber als die Freunde (sie) hinderten, sagte Jesus: »Lasst die Kinder und hindert sie nicht daran, zu mir zu kommen: denn solchen gehört die Königsherrschaft der Himmel.« (Mk 10,14) Was er damit gesagt haben will, machte der Herr selbst deutlich, wenn er sagt: »Wenn ihr nicht kehrtmacht und wie die Kinder werdet, kommt ihr nicht in die Königsherrschaft der Himmel hinein.« (Mt 18,3) Dabei redet er hier nicht allegorisch über die Wiedergeburt 2, sondern er vertraut uns die Einfachheit in den Kindern zur Nachahmung an.«
(Clemens Alexandrinus, Paedagogus I,4,12,1-3; GCS XII, S. 96-97; Leipzig 1905; MÜ)
Der Rangstreit der Jünger
Der synoptische Vergleich zeigt, dass die Aussage wenn ihr nicht kehrtmacht und wie die Kinder werdet, kommt ihr nicht in die Königsherrschaft der Himmel hinein matthäisches Sondergut ist. Sie fällt in einer Szene, die als »Rangstreit der Jünger« bekannt ist (Mk 9,33b-37; Mt 18,1-5; Lk 9,46-48). Jesus lehrt seine Schüler, indem er ihnen ein Kind als Beispiel vor Augen stellt. Und: es gibt noch eine zweite Szene in den Evangelien, in der Jesus auf anwesende Kinder verweist.
Die Segnung der Kinder
In Mk 10,13-16/Mt 19,13-15/Lk 18,15-17 fällt bei Mk und Lk der Satz: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineingelangen. (Mk 10,15 + Lk 18,17). Mt lässt diesen Vers aus. Auffällig ist, dass es sich bei Lukas in dieser Szene sogar um Säuglinge (τὰ βρέφη) handelt, die gesegnet werden sollen – das entspricht der Parallele im Thomas-Evangelium 22.
Nominativ oder Akkusativ?
Der zitierte Satz ist doppeldeutig, hōs paidíon – wie ein Kind kann Nominativ oder Akkusativ sein.
Nominativ-Bedeutung: Wer das Reich Gottes nicht annimmt, so wie ein Kind das Reich Gottes annimmt, der kann nicht hineinkommen.
Akkusativ-Bedeutung: Wer das Reich Gottes nicht annimmt, so wie er ein Kind annimmt, der kann nicht hineinkommen.
Markinischer Kontext
Nachdem Mt und Lk die Perikope aus Mk übernommen haben, lohnt noch Blick auf den markinischen Kontext:
ὃς ἂν ἓν τῶν τοιούτων παιδίων δέξηται ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου, ἐμὲ δέχεται· καὶ ὃς ἂν ἐμὲ δέχηται, οὐκ ἐμὲ δέχεται ἀλλὰ τὸν ἀποστείλαντά με.
Wer eins von solchen Kindern aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt mich auf; und wer mich aufnehmen wird, nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat. (Mk 9,37; Ü: Elberfelder)
Erwachsene Auslegung
Ich mache mich hier für die Akkusativ-Bedeutung stark: das Reich Gottes annehmen, wie ich ein Kind annehme. Durch meine Kinder bin ich zu einem erwachsenen Menschen geworden. Es geht also nicht um Infantilisierung, sondern um Aufgabe und Verantwortung.
Die Metapher Reich Gottes ist viel zu unbestimmt mehrdeutig als dass man es wie ein Kind (Akkusativ) annehmen könnte. Ein Kind braucht Liebe, Herzenswärme und Klugheit in der Erziehung. Ein Reich bzw. eine Herrschaft zu „lieben“ist zu leicht der Gefahr des Missbrauchs der Herrschenden ausgesetzt,im religösen Bereih der Kirchenoberen bzw. einflussreicher Theologen wie Augustinus oder Thomas .v. .Aquin,, welche staatliche Gewalt gegen „Ketzer“ befürworteten, oder Thomas Morus,, der Protestanten wegen Abfall vom rechten Glauben hinrichten ließ. Alle drei wurden von der Kirche heilig gesprochen.
Hans-Christian Rump