1935 verweigerte der an der Universität Bonn lehrende Schweizer Theologe Karl Barth den Eid auf Adolf Hitler. Als einer der geistigen Väter der »Barmer Theologischen Erklärung« und damit der »Bekennenden Kirche« musste er daraufhin nicht nur seinen Lehrstuhl aufgeben, sondern Deutschland verlassen. 1
Ein Jahr später verfasste der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann ein »Sendschreiben an Karl Barth zum 50. Geburtstag« 2 Erstaunlicherweise schreibt Bultmann darin über »Polis und Hades in der Antigone des Sophokles«.
Codierte Theologie
Wenn man die Zeitumstände vor dem Hintergrund der Ausweisung Barths bedenkt, dem Bultmann aus Hitlerdeutschland seinen öffentlichen Aufsatz zusandte, dann ist die Wahl des Themas gar nicht mehr so überraschend. Denn im Mittelpunkt der Antigone steht der Konflikt zwischen dem die Polis repräsentierenden Kreon und der ihrer Überzeugung folgenden Antigone. In den Worten Bultmanns:
»Das Problem der Antigone ist die Frage (…) nach der echten Begründung menschlichen Gemeinschaftslebens überhaupt.« 3 Vor dem Hintergrund der »Bekennenden Kirche« ist damit in codierter Form die Auseinandersetzung mit dem Führerprinzip des Dritten Reiches aufgenommen. Wenn Bultmann über Kreon schreibt: »Für ihn ist die direkte, unmittelbare Göttlichkeit der Herrschaft selbstverständlich, so daß er, gerade wenn er sein Amt als göttliches verficht, die Ehre der Götter mit Füßen tritt (745).« 4
Theologisch wird das dann ganz deutlich in den Aussagen über den Hades, »das geheimnisvolle Jenseits menschlichen Unternehmens und Rechtsetzens; als die Macht, aus der echtes Recht entspringt, und durch die alles menschlich-gesetzliche Recht relativiert wird. Zwischen Zeus und Hades ist kein Unterschied.« 5
Ich kann Bultmann absolut keinen Vorwurf machen, dass er sich in der Zeit der NS-Diktatur dieser Verschlüsselung bediente, um seine eigentliche Aussageabsicht an den vertriebenen Theologen zu verschleiern. Barth wird schon ziemlich genau verstanden haben, was ihm der Marburger Kollege da mitteilen wollte.
Bultmann und der Staat Israel
Ganz anders bewerte ich aber den erstmals 1949 veröffentlichten Aufsatz »Weissagung und Erfüllung«. 6 Hier geht Bultmann oberflächlich betrachtet der Frage nach, ob der neutestamentliche Umgang mit alttestamentlichen Aussagen im Sinne des Schemas »Verheißung – Erfüllung« legitim ist.
Bultmann trifft hier einige bedenkenswerte Aussagen, die zu diskutieren auch heute noch lohnt: »In jedem Fall ist klar, daß man aus den Texten herausliest, was man vorher schon weiß.« 7 Des Pudels Kern erscheint für mich in der Aussage:
»Diese Art von Weissagung und Erfüllung zu reden, ist in einer Zeit, in der das Alte Testament als geschichtliches Dokument verstanden und nach der Methode historisches Wissenschaft interpretiert wird, unmöglich geworden.« 8
So deutlich Bultmann hier auch redet, so verschleiert und gehemmt ist seine eigentliche Aussageabsicht: die theologische Auseinandersetzung mit dem ein Jahr zuvor entstandenen Staat Israel. In der zweiten Hälfte des Aufsatzes spricht Bultmann über den Bundesbegriff und dekretiert:
»Der Bund Gottes mit einem Volke (…) ist ein eschatologischer Begriff, weil ein solches Volk keine reale empirisch-geschichtliche, sondern eine eschatologische Größe ist.« 9 Und weiter: »Sind nicht Jeremia und Ezechiel noch inkonsequent, wenn sie diesen eschatologischen Bund immer noch als einen Bund Gottes mit einem künftigen empirischen Volke Israel auffassen?« 10
Antijudaismus als Motiv
Dann wird aber in wünschenswerter Klarheit deutlich, was die Motive Bultmanns für seine nicht offen ausgesprochene Ablehnung des Staates Israel sind: sie liegen in seinem manifesten Antijudaismus.
»Das Bundeszeichen des alten Bundes, die Beschneidung ist erledigt«. 11 Der »Illusion einer Identifizierung des Gottesvolkes mit einem empirisch-geschichtlichen Volk« stellt er gegenüber, dass »das Volk Gottes, das wahre Israel, gegenwärtig ist in der christlichen Gemeinde.« 12
Geschrieben hat er das keine fünf Jahre nach Kriegsende. Doch den Mut, das Kind beim Namen zu nennen, und die Gründung des Staates Israel direkt und offen zu kritisieren, bringt er nicht auf.
Was für mich erledigt ist, ist diese antijudaistisch kontaminierte Exegese, der zum Judentum einfach nichts positives einfallen will, die sich allerdings nach wie vor einer Anhängerschaft erfreut, mehr als ein halbes Jahrhundert nach diesem Aufsatz.
verstehe ich recht? bultmann sieht auch zur zeit des alten testaments als adressaten der at botschaft nie ein, sich konstituierendes, natürlich eschatologisch ausgespanntes, empirisches jüdisches volk? ja wurden denn nun die bundesgebote gehalten oder nicht, einerlei wie er dazu stehen mag und der überbietung(?) im nt.
verstehe ich das recht? danke.
Für mich ist das eigentliche Problem, dass Bultmann unbedingt eine Trennung zwischen dem jüdischen Volk und der biblischen Botschaft das Wort redet. Er steht damit in einer langen Tradition, die das wahre Israel („verus Israel“) dem Christentum zuschlägt. Das AT ist dann eine Art Provisorium, das sich nach seiner Aufhebung durch das NT sehnte …