Giorgio Agamben hat einen Kommentar zu Röm 1,1 geschrieben: »Die Zeit, die bleibt«. Ein Buch über einen Vers, gleichsam. Doch die kleinste mögliche Einheit bei der Auslegung der Heiligen Schrift setzt viel tiefer an: beim einzelnen Buchstaben. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür bietet der »Midrasch Bereschit Rabba«, ein großer rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis. Dort diskutieren die Rabbinen die Frage, warum die Heilige Schrift mit dem Buchstaben »B« beginnt, und nicht mit dem »A«. Hier die Auslegung:
Rabbi Jona sagte im Namen von Rabbi Levi: Warum fängt die Weltschöpfung mit dem Buchstaben Beth (ב) an? [Der Text der Hebräischen Bibel beginnt mit den Worten: bere’schit bara‘ ælohim] Weil, sowie die Beth von drei Seiten zu und nur von vorn offen ist, auch du nicht die Macht hast zu sagen, was unten und was oben, was vorher und was nachher war, sondern du kannst das erst, nachdem die Welt vollendet war.
Bar Kapra sagte: Es heißt Dtn 4,32: »Frage nur die vergangenen Tage, welche vor dir waren« – d.h. von dem Tag an, wo sie erschaffen wurden, darfst du forschen, aber du darfst nicht forschen nach dem, was vorher war. Ferner heißt es daselbst: »Von einem Ende des Himmels bis zum anderen darfst du forschen und darüber nachdenken«, aber über das, was vorher war, darfst du nicht nachdenken.
Rabbi Jehuda ben Pasi erklärte die Weltschöpfung im Sinne des Bar Kapra, er stellte nämlich die Frage: Warum beginnt die Weltschöpfung mit dem Buchstaben Beth? Um dich zu lehren, dass es zwei Welten gibt, diese und die zukünftige.
Oder die Weltschöpfung beginnt deshalb mit dem Buchstaben Beth, weil dieser der Anfangsbuchstaben von dem Wort beracha (Segen)ist. Warum beginnt sie nicht mit dem Buchstaben Aleph (א)? Weil dieser der Anfangsbuchstaben von dem Wort arirah (Fluchen) ist, oder es geschieht deshalb, damit die Häretiker (minim) nicht sagen können: Wie kann die Welt bestehen, da sie mit dem ersten Buchstaben des Wortes arirah erschaffen ist? Gott sprach nämlich: Ich will sie mit den ersten Buchstaben des Wortes beracha erschaffen, denn ich wünsche, dass sie bestehen bleibe.
Oder: Warum beginnt die Weltschöpfung mit dem Buchstaben Beth? Die Beth hat zwei Striche, einen nach oben und einen nach unten, fragt man sie: Wer hat dich erschaffen? So zeigt sie mit dem einen Strich nach oben und spricht: der da oben hat mich erschaffen, fragt man sie: Wie heißt er? So weist sie mit dem anderen Strich nach unten und spricht: Ewiger ist sein Name.
Nach Rabbi Eleasar bar Chanina im Namen des Rabbi Acha klagte der Buchstabe א durch 26 Geschlechter vor dem göttlichen Thron und sprach: Herr der Welt! Ich bin der erste Buchstabe und du hast die Welt nicht mit mir erschaffen. Darauf gab Gott zur Antwort: Die Welt und was sie füllt, wurde nur im Dienst der Tora erschaffen (Spr 3,19), allein morgen werde ich die Tora auf dem Sinai geben und sie wird mit dir anfangen. [Die Sinai Tora beginnt mit den Worten: Ich bin der HERR, Dein Gott … (Ex 20,2). Auf Hebräisch: anochi adonia ælohæcha …]